Interview Die Glorifizierung des Ghettos

Bonn · Der Bonner Autor und Journalist Sascha Verlan ist auf Hip-Hop spezialisiert. Er hält Bushido und Co. für Schauspieler.

 Ein guter Ort, um ein Hip-Hop-Video zu drehen. Auch wenn Autor Sascha Verlan in einer bürgerlichen Ecke von Beuel steht. Er beschäftigt sich mit Rap-Musik und den Klischees, die sie begleiten.

Ein guter Ort, um ein Hip-Hop-Video zu drehen. Auch wenn Autor Sascha Verlan in einer bürgerlichen Ecke von Beuel steht. Er beschäftigt sich mit Rap-Musik und den Klischees, die sie begleiten.

Foto: Volker Lannert

Sascha Verlan hat kurzfristig den Treffpunkt geändert. Weg vom heimischen Arbeitszimmer, raus auf die Straße. Er möchte an diesem Vormittag gar nicht so sehr über seine Bücher sprechen, die sich vorwiegend mit Rap und Hip-Hop befassen. Dem Bonner Journalisten geht es um Grundlegendes. Er möchte über die Gesellschaft reden, über die Medien, und wie in der Musikindustrie ein Zerrbild von Realität entsteht, das viele für real halten. "Hier könnten wir ein wunderbares Ghetto-Video drehen", sagt der 45-Jährige. Verlan sitzt vor einer Graffiti-Wand, trägt kurze Jeans, zwei Kapuzenpullover und eine rote Mütze. "Schauen Sie sich um", sagt er: "Hier stehen Hochhäuser, da vorne liegt Sperrmüll, in der Nähe gibt es eine Unterführung. Vieles was heutzutage im Rap und Hip-Hop passiert, passiert in diesem Umfeld." Nur befindet sich das Umfeld in diesem Fall in Bonn-Beuel, an der Mirecourtstraße im bürgerlichen Vilich-Rheindorf. Das ist kein Ghetto. Mit Verlan sprach Moritz Rosenkranz.

Warum sind das Ghetto und die Gewalt, die mit ihm verbunden ist, eine Art Sehnsuchtsort, der in Rap-Videos und -Texten heutzutage immer wieder erfolgreich beschworen wird?
Sascha Verlan: Weil es dem Bild von Hip-Hop entspricht, das wir alle im Kopf haben: Gangster, Ghetto, Drogen und Gewalt, harte Typen. Und diese Erwartungshaltung wird bedient. Das Problem ist, dass die Bilder, die in den Videos gezeigt werden, nur selten einer tatsächlichen Lebensrealität entsprechen, schon in den USA nicht und hier noch viel weniger. Wir haben es mit einer Aufmerksamkeitsindustrie zu tun, in der Sexismus und Gewalt Erfolg bringen.

Das heißt, es geht nicht um Authentizität, sondern um Verkauf von Images?
Verlan: Hätten wir die mediale Aufmerksamkeit, die deutschsprachiger Rap seit ein paar Jahren bekommt, schon Mitte der 90er Jahre erreicht, hätten wir heute nicht diese Probleme mit Gewalt- und Drogenverherrlichung, Sexismus und Rassismus im Rap. Damals gab es Rapper und Rapperinnen mit problematischen Biografien und authentischen Texten, doch die wurden nicht gehört. Das führte letztlich zu einer Radikalisierung der Texte, die sich bei Aggro Berlin und Künstlern wie Massiv und Haftbefehl teilweise ins Surreale steigert, obwohl sich an den Lebensumständen der Menschen in den Problembezirken de facto nichts verändert hat.

Und die Medien?
Verlan: Wir hatten den Pisa-Schock, die Integrationsdebatte, Sarrazin - da passten diese Rapper wunderbar ins Bild, weil sie scheinbar das repräsentierten, was schiefläuft im Land. Aber ein Bushido war doch auf dem Gymnasium, wie eloquent und gebildet er ist, das zeigt er doch als beliebt-berüchtigter Gast in den Talkshows. Die sind alle nur so groß geworden, weil sie groß geschrieben wurden.

Und wenn Sido von seinem Block rappt und Bushido in einem Text Menschen namentlich nennt und erschießt und misshandelt, das hat keinen wahren Hintergrund?
Verlan: Diese Tötungsfantasien schon gleich gar nicht, das ist ja klar. Der Punkt ist, dass die Fantastischen Vier und andere Bands schnell den Stempel weghatten, nicht real, nicht echt zu sein, weil sie eben aus der deutschen Mittelschicht kommen und nicht dem Klischee von Rap entsprechen. Das haben Leute wie Bushido erkannt und sich gesagt: Okay, ihr wollt also den asozialen Kanaken. Den gebe ich euch, aber nur für viel Geld. Er reproduziert und bedient also die Vorurteile gegenüber jungen Männern mit Migrationshintergrund, die die gesellschaftliche Mehrheit mit sich herumträgt.

Seit dem Jahr 2000 machen sie auch Rap-Workshops mit Jugendlichen in Schulen. Wie kommt so etwas da an?
Verlan: Da habe ich gemerkt, wie ungefiltert die Botschaften der Rapper dort ankommen, wie sehr sich die Jugendlichen mit diesem Ghettoleben identifizieren, das da reproduziert wird. So sehr, dass sie in ihrem eigenen Leben weniger Perspektive erkennen, als sie tatsächlich haben. Ich rede an gegen den Schulterschluss von Rappern, Plattenfirmen und Medien, die eine Menge Geld damit machen, dieses Ghetto zu glorifizieren. Das ist der Ausverkauf von Kindheit und Jugendlichkeit.

Was meinen Sie damit?
Verlan: Nehmen Sie Yassir, einen Rapper, der für Drogen- und Gewaltdelikte viele Jahre im Gefängnis saß. Inzwischen wurde er nach Marokko abgeschoben und ist weit weg von seiner Familie in Frankfurt. Auch er schildert das Gangsterleben, aber er weiß genau, dass es da nichts zu verherrlichen gibt, stattdessen sucht er nach Wegen, anderen diesen verhängnisvollen Lebensweg zu ersparen. Das ist die Grundidee von Hip-Hop, die eigenen Lebensumstände werden schonungslos beschrieben, nicht weil sie toll sind, sondern weil es darum geht, diese Verhältnisse zu überwinden. Die Gangsterrapper hier in Deutschland haben keine konstruktiven Vorschläge, sie beschreiben ein Klischee, eine Art Tagtraum, ihren eigenen Film. Und weil sie diese Situationen nie wirklich erlebt haben, fehlt ihnen auch das Bedürfnis, die bestehenden Verhältnisse zu verändern.

Was ziehen Sie aus diesen Workshops, an denen ja viele Jugendliche aus der beschriebenen Zielgruppe teilnehmen?
Verlan: Wenn ich mit Jugendlichen arbeite, merken die ja recht schnell, was ich von ihnen erwarte. Und weil sie mir letztlich gefallen wollen, rappen sie dann auch über entsprechende Themen. Und wenn sie nun vor einer Fernsehkamera stehen, das ist nachgewiesen, sagen sie Dinge, die Journalisten von ihnen hören wollen, dann erzählen sie ihre Gangstergeschichten, weil sie nur dafür Anerkennung bekommen. Das heißt, Medien schaffen Wirklichkeit und bilden sie nicht ab. Meine Botschaft an die Jugendlichen ist, dass sie selbstbewusst und sich selbst bewusst werden, um ihre Lebensverhältnisse auch eigenmächtig definieren zu können. Dann beten sie auch nicht mehr irgendwelche Zeilen von Gangsterrappern nach, die in Wahrheit gar nichts mit ihnen zu tun haben, dann kommen die Geschichten, die sie wirklich beschäftigen, und man merkt, wie unterschiedlich diese Jugendlichen sind, die wir immer als eine homogene Gruppe wahrnehmen.

Zur Person

Sascha Verlan stammt aus Esslingen in Baden-Württemberg und lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Beuel. Er hat Germanistik und Geschichte in Bonn studiert. Im Jahr 2000 brachte er im Reclam-Verlag das Buch "Rap-Texte" heraus, das 2012 in dritter, erweiterter Auflage erschienen ist. Zudem hat er an diversen Büchern zum Thema Hip-Hop mitgearbeitet. Zuletzt hat er gemeinsam mit seiner Frau Almut Schnerring das Buch "Die Rosa-Hellblau-Falle. Für eine Kindheit ohne Rollenklischees" veröffentlicht. Als freier Journalist ist er vor allem für den Deutschlandfunk tätig.

Weitere Infos zu Verlan unter ich-mach-mir-die-welt.de

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