Dokumentarfilm "Die Moskauer Prozesse" im Kino der Brotfabrik

BEUEL · Freidenker gegen Fanatiker, Künstler gegen Priester - Welten prallen aufeinander. Der Schweizer Bühnenregisseur und Dokumentarfilmer Milo Rau hat "Die Moskauer Prozesse" im Sacharow-Kulturzentrum der russischen Hauptstadt als brisante dreitägige Theater-Installation realisiert.

 Engagierte Verteidigerin in den realen Prozessen wie in der Kino-Verhandlung: Anna Stavickaja.

Engagierte Verteidigerin in den realen Prozessen wie in der Kino-Verhandlung: Anna Stavickaja.

Foto: RF

Die Verfilmung war auf der Lit.Cologne als Vorpremiere zu sehen, im Anschluss diskutierte Rau mit dem Philosophen Michail Ryklin. Dessen Frau, die Künstlerin Anna Altschuk, war im ersten der drei Prozesse angeklagt. 2008 beging sie, offenbar unheilbar traumatisiert, im Berliner Exil Selbstmord. Ihr und dem gemeinsamen Leben hat Ryklin sein "Buch über Anna" (Suhrkamp, 24,95 Euro) gewidmet.

Altschuk bezahlte den denkbar höchsten Preis, doch die Prozesse um die Schau "Achtung! Religion" (2003) und "Verbotene Kunst" (2006) endeten mit zerstörten Werken und Karrieren, der Protest von "Pussy Riot" (2012) brachte zwei der Frauen in Lagerhaft.

Rau lässt alle drei Verfahren ohne Drehbuch neu verhandeln. Mit offenem Ausgang, einer aus allen Schichten der russischen Gesellschaft besetzten Jury sowie real involvierten Akteuren. So übernimmt der konservative Starmoderator des russischen Staatsfernsehens, Maxim Schewtschenko, wortgewaltig die Anklage - und der stellt sich auch Katja Samuzewitsch, die als einzige "Pussy Riot"-Aktivistin mit einer Bewährungsstrafe davonkam.

Gewiss schimmert insbesondere in Kommentaren abseits der Verhandlung eine These durch: dass die Verfahren Schauprozesse waren und die Knopfdruck-Empörung der Reaktionäre dem Autokraten Putin höchst gelegen kommt. Doch auch die orthodoxen Überzeugungstäter kommen ausgiebig zu Wort, wie die gesamte Verhandlung überhaupt hart, aber fair wirkt. Tatsächlich sind selbst bei befragten Künstlern Vorbehalte gegen die blasphemische "Vorsicht! Religion"-Schau hörbar.

"Die Aggression geht von der neoliberalen Weltanschauung aus", meint die Anklage, was Zeugen wie Wsewolod Tschaplin, Erzpriester der Russisch-Orthodoxen Kirche, allzu gern bestätigen. Dem widerspricht hier Anna Stavickaja, die tatsächlich Verteidigerin in den beiden ersten Prozessen war. So blickt dieser Film tiefenscharf in die russischen Gräben zwischen kritischer Toleranz und konservativem Wertediktat.

Und das System liefert ganz aktuell stichhaltige Beweise seiner Unduldsamkeit: Zuerst unterbrechen Beamte der Einwanderungsbehörde mit schikanösen Passkontrollen die Verhandlung, wenig später stehen militante Kosaken vor der Tür, weil drinnen antireligiöse Aktivitäten stattfänden. So entlarvt dieses klug konzipierte Kunstwerk die fragwürdige Allianz von Machtapparat und Kirche.

Milo Raus Hoffnung, dass die Moskauer Gesellschaft gut zehn Jahre nach dem ersten Ausstellungsskandal liberaler denken möge, erfüllt das Urteil nur teilweise: Die Jury zeigt sich bei deutlicher Tendenz zugunsten der Angeklagten letztlich gespalten. Und als Rau Monate nach dem Projekt noch einmal mit den Beteiligten sprechen will, bekommt er Einreiseverbot. P.S.: Zu diesem fesselnden Filmwagnis passt übrigens der Name seines Kölner Verleihs perfekt: Real Fiction.

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