Mord im Auftrag der Götter "Die Orestie" im Bonner Schauspielhaus

Bonn · Marco Storman inszeniert „Die Orestie“ des Aischylos im Bonner Schauspielhaus. Wirklich nahe kommt das Stück aus dem Jahr 458 v. Chr. dem Publikum nicht.

 Ganz eng: (von links) Sophie Basse, Daniel Breitfelder und Christian Czeremnych.

Ganz eng: (von links) Sophie Basse, Daniel Breitfelder und Christian Czeremnych.

Foto: b

Kassandra gibt einen kleinen Einblick in das Geschehen auf der Bühne: „Sieh da! Das Seil aus Stahl! / Und da! Ein abgeschlagenes Haupt! / Und dort das Blut im Opferbecken. / Das Blut von einem Mann. / Und blutbespritzt der Boden auch. / Ein Menschenschlachthaus! Weh!“ Willkommen in der griechischen Tragödie. Für die „Orestie“ des Aischylos aus dem Jahr 458 v. Chr. muss das Publikum ganz stark sein. Was wird da nicht alles in Wort und Bild aufgerufen: Muttermord und Gattenmord, Kinderschlächterei und Kannibalismus. Das Grauen gründet auf einem von Blut und Sippe geforderten Rachemechanismus, einer griechischen Variante der Vendetta, die im dritten Teil des Dramas abgelöst wird von einem von der Vernunft bestimmten staatlichen Recht. Willkommen in der Zivilisation.

Den dritten Teil lässt der Regisseur Marco Storman im Schauspielhaus nicht spielen. Seine zweistündige, pausenlose „Orestie“ endet mit der skeptischen Frage, ob der Familienfluch der Atriden jemals enden könne: „Wann endlich schlägt er um, / Der Sturmwind des Fluchs? / Wo wird er sich legen / Und als Wind zur Ruhe kommen, / Der gelind und freundlich ist? Oder endet er nie?“

Den Schluss absolvieren die Akteure nicht mehr in ihren antik-futuristischen Kostümen (verantwortlich: Bettina Werner und Rabea Stadthaus), sondern in feiner, gegenwärtiger Abendgarderobe – und vor einem frisch errichteten Wachturm à la DDR. Was will uns Storman damit sagen? Braucht die Zivilisation seiner Ansicht nach diese Art von Überwachung, einen Big Brother, der gewalttätige Instinkte im Zaum hält?

Das Schicksal nimmt seinen Lauf

Storman und seine Schauspieler wollen ein Gleichnis erzählen: von Gewalt, die immer wieder neue Gewalt gebiert, und ihren Folgen für die Menschen. Sie sind gefangen in einem Teufelskreis. Mord und Barbarei sind durch ein archaisches, religiös begründetes Konzept programmiert.

Das Bonner Menschenschlachthaus hat Jil Bertermann (Bühne) als felsige Landschaft mit Untergeschoss gestaltet. Das triste Grau der Szene wird vom ausgiebig eingesetzten Bühnennebel akzentuiert. Bernd Braun (in Schwarz) und Moritz Löwe, der für die Produktion suggestive Klangteppiche geknüpft hat, ordnen als Chor die komplexe Geschichte der „Orestie“ ein: mal neutral, mal kritisch, mal kokett, mal ironisch. Das Programmheft hilft jenen, die da nicht gleich mitkommen.

Danach nimmt das Schicksal seinen Lauf. Klytaimnestra (Sophie Basse) zum Beispiel ermordet den siegreich aus dem Krieg gegen Troja heimgekehrten Gatten Agamemnon (Wolfgang Rüter). Danach begründet Basses Figur eindringlich und auf gruselige Weise überzeugend ihre Tat mit diversen Fehlleistungen ihres Mannes und droht gleichzeitig an dem Mord irre zu werden. Das Muster wiederholt sich bei Orest (Sören Wunderlich), der psychologisch unterstützt von seiner Schwester Elektra (Sandrine Zenner) und Agamemnon, der von den Toten als Geist und Einflüsterer zurückkehrt wie Hamlets Vater, die Mutter tötet. Wunderlich ist der Mann der Zukunft: ein Zaudernder, Zweifelnder und Fragender.

Die Aufführung verbringt viel Zeit damit, Leichen zu produzieren und zu entsorgen. Wolfgang Rüters Agamemnon kehrt als erfolgreicher, aber ziemlich kaputter Kriegsherr aus Troja zurück; als Trophäe hat er Kassandra mitgebracht. Es kommt zu Kuss und Umarmung, aber viel hat Agamemnon nicht von seiner Geliebten. Er muss sterben und wird in Plastikfolie verpackt. Daniel Breitfelder als Kassandra verkörpert eine Seherin vor dem Wahnsinn. Das zeigt er in einer surrealen, atemlosen Albtraum-Pantomime, in der unter anderem Lesebrille, Lupe und Tarotkarten zum Einsatz kommen.

Kettensäge auf dem Bühnenboden

Viel Sinn mag das nicht ergeben, aber Breitfelder in weißer Unterhose wird das Publikum so schnell nicht vergessen. Das gilt auch für die Gewalt, die ihm Klytaimnestra und ihr Geliebter Aigisth (Christian Czeremnych) zumuten. Der ausgewalzte szenische Exzess, an dessen Ende eine Kettensäge auf dem Bühnenboden liegt (aber nicht benutzt wird), macht dem Regisseur wahrscheinlich mehr Spaß als den Menschen im Parkett. Wie gesagt, sie müssen stark sein für diese „Orestie“.

Immer wieder setzen sich die Schauspieler, die mit Ausnahme von Basse, Breitfelder und Wunderlich nicht wirklich gefordert werden, als Beobachter auf einen der Bühnenfelsen. Sie blicken auf eine Welt, die dem heutigen Zuschauer in den beiden Teilen der „Orestie“, die Storman anbietet, nur schwer nahekommt. Die letzten Meter des Stückes, den Weg hin zur im Stück gewonnenen Rechtssicherheit, hat der Regisseur verschmäht. Vielleicht ganz gut so.

Peter Stein ließ 1980 an der Schaubühne in Berlin die ganze „Orestie“ spielen: siebeneinhalb Stunden lang, mit zwei Pausen und einem Gutschein für Suppe und Bier. Das Publikum musste auf dem Boden sitzen. „Ein Orthopäde wurde nicht zu Rate gezogen“, schrieb der Frankfurter Kritiker Georg Hensel.

Die nächsten Aufführungen: 4., 6., 13. und 26. Oktober. Karten gibt es in den Bonnticket-Shops der GA-Zweigstellen.

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