Die Tradition des Erzählens neu entdeckt

Bei Corinna Dommes Erzählnacht präsentieren sechs Bonner Geschichten, die das Leben schrieb - Von trinkfesten Kenianerinnen, ungewöhnlichen Freundschaften und Seemannsgarn am Kaminfeuer

Die Tradition des Erzählens neu entdeckt
Foto: Frommann

Bonn. Ein roter Schleier glüht auf Ilse Lehmanns Wangen. Während sie spricht, purzeln die Jahre zurück, bis sie mit 21 in Ost-Berlin an ihrer ersten Demo teilnimmt: "Wir marschieren im Gleichschritt, in Sechserreihen, Frauen in der Mitte, und auf die Chöre 'Reiht euch ein', strömen immer mehr Menschen herbei.

Eine große Masse, ein einziger Wille. Ich habe nie solche Lust verspürt! In der Leipziger Straße fliegen die ersten Steine, ein Papierkorb segelt brennend durch die Luft. Stöcke schlagen ans Tor des Ministeriums und alle schreien 'Der Spitzbart, der muss weg!'"

Gemeint ist SED-Politiker Walter Ulbricht. Lehmann erinnert sich an den Aufstand des 17. Juni 1953, als wäre der gestern passiert. Dass Geschichten, die das Leben schreibt, oft mitreißender als jede Fiktion sind, bewiesen am Samstagabend sechs Bonner: Im Rahmen der 2. Langen Erzählnacht erweckten sie Episoden aus ihrer Vergangenheit zu neuem Leben.

Organisatorin Corinna Dommes knüpfte mit der Veranstaltung an jahrhundertealte Erzähltraditionen an, als "mehrere Generationen jüdischer Familien sich freitags an einem Tisch versammeln, damit jeder in Ruhe von seiner Woche berichtet. In unserer modernen Kultur wird man stattdessen mit Geschichten überschüttet."

Blockbuster und Popcorn blieben bei der Erzählnacht also draußen. Während ein warmer Herbstwind Laub über den Bonner Talweg fegte, warteten Zuhörer im Antiquariat Antiquarius auf einen Sitzplatz. Nur wer rechtzeitig den Weg dorthin gefunden hatte, ergatterte einen der 30 Korbstühle im kleinen Lesesaal, wo der Duft uralter Bücher in der Luft liegt.

Regale, vollgestopft mit Kunstwälzern und Bänden der Gilde Gutenberg, ziehen sich die Wände hoch. Auf in Nischen gezwängten Beistelltischen welken Nelken. Weinkaraffen funkeln im Kerzenlicht. Mit Klarinette, Akkordeon, wilden und melancholischen Klezmertänzen begleitet das Duo "nu" die Erzähler, die jetzt reihum auf die winzige Bühne treten.

Entlang der Themen "Das erste Mal" und "Reise in die Fremde" spinnen sie Geschichten, in denen Fettaugen auf der Milch schwimmen, blutjunge Kenianerinnen die Männer unter den Tisch trinken und ein kleiner Dieb lernt, mit Gartenarbeit eine Mark zu verdienen.

Thorsten Meyer will Anfang der 90er Jahre ein Auslandssemester in Bristol verbringen, "allerdings hatte ich einige wesentliche Fragen noch nicht geklärt: Was will ich denn eigentlich studieren? Und wo will ich wohnen?"

In einem Backsteinhaus in Christmas Steps wird er fündig. Seine Vermieterin Bella trägt "rote Lederschuhe, einen Tweedrock. Sie hat eine zierliche Gestalt und welliges weiches Haar. Wie alt mag sie sein? Ich schätze sie auf Mitte 70." Eine Art Liebe auf den ersten Blick verbindet den Studenten mit der älteren Dame.

An Bellas Kaminfeuer, das Whiskyglas in der Hand, dicke Perserkatzen auf dem Schoss, und Seemannsgarn in den Ohren, ist das Zuhause in der Fremde schnell gefunden. "Das Leben ist wie ein Buch", schreibt Jean Paul. "Und wer nicht reist, der liest nur wenig davon."

Dommes veranstaltet auch Erzähl-Salons: erzaehlkultur-erleben@netcologne.de

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