In der Inszenierung von Karin Henkel Dostojewskis "Der Idiot" im Schauspielhaus Köln

"Der Idiot" von 1868 zählt mit seinen 845 Seiten zu den "Elefanten" unter Dostojewskis Romanen. Chefdramaturgin Rita Thiele und Regisseurin Karin Henkel nehmen ihn an die Kandare und wagen einen artistischen, atemberaubenden Ritt.

Dieser Jubel lag an der Kette, fast eine ganze Saison lang. Nun riss er sich endlich los, denn mit der vorerst letzten Premiere im Schauspielhaus ist Kölns Sprechtheater wieder am angestammten Platz der letzten Spielzeiten: ganz oben.

Gleich zu Beginn packt Henkel das schwarze Herz des Werks aufs Silbertablett: Unter der Projektion von Holbeins erschütterndem Gemälde "Toter Christus" liegt eine zweite Leiche: die flatterhaft schöne Nastassja. Und um sie trauern in irritierender Eintracht ihr Liebhaber und Mörder Rogoschin sowie sein Rivale Fürst Myschkin.

Rivale? In Köln wird der adelige Epileptiker, der angeblich kurierte "Idiot", von Lina Beckmann verkörpert, und dieser Coup zielt ins Herz der Figur: Myschkin ist eigentlich ein großes Kind, das nicht erotisch, sondern idealistisch liebt: die früh verdorbene Nastassja, um sie auch vor ihrer Selbstverachtung zu retten, die auf dem Heiratsmarkt schwer vermittelbare Aglaja aus Mitleid.

Altruist Myschkin wird so mit besten Absichten zum Katastrophen-Katalysator und scheint die tiefsten Gefühle ohnehin für seinen düsteren Widerpart Rogoschin zu hegen. Um dieses Kernpersonal lässt Henkel die vielköpfige Dostojewski-Bagage aus verarmtem Adel, abgewrackten Schmarotzern (wunderbar schmierig Markus John als Lebedjew), Mitgiftjägern und Nihilisten wie ein aus der Umlaufbahn schlingerndes Planetengetriebe rotieren.

Oft ist Muriel Gerstners verschachtelte Rumpelkammerbühne (oben Peep-Show-Zelle und "Psycho"-Plakat, unten Poeten-Verlies und Passbild-Automat) in spukhaftes Halbdunkel getaucht, während Vorleser am Rand das Handlungsgeäst lichten. Die Regie reizt unterdessen die Tragikomik der Vorlage virtuos aus: Die Kolportage-Kapriolen aus pompösen Heiratsanträgen und kleinlauten Rückzügen kippt sie ins Groteske - mit eskalierenden Whitney-Houston-Arien ("I will always love you") als Zugabe. Aglaja und ihre Schwestern posieren wie Bollywood-bunte Püppchen, während der schwindsüchtige Ippolit den wortreich annoncierten Selbstmord verpatzt.

Intimes Stillleben

Noch zwingender als beim bösen Blick auf Tschechows "Kirschgarten" friert Karin Henkel den Tumult sekundenschnell zu intimen Stillleben ein. Dann darf Lina Beckmann alle Charakterfarben ihres "Idioten" schillern lassen: naive Unverwundbarkeit und Reinheit, umgekehrt jene Visions-Hysterie, mit der Myschkin antikatholische Tiraden hervorsprudelt.

Mag der Fürst der (partiellen) Geistesfinsternis auch als Ideal einer "schönen Seele" angelegt sein, Beckmann macht ihn menschlich. Sie schlägt sich buchstäblich die Anfälle aus dem Kopf und beschränkt Zucken und Zittern auf wenige, umso schockierendere Ausbrüche.

Eine Leistung von einsamer Extraklasse, die das Ensemble mitreißt: Charly Hübners rücksichtsloser und verlorener Kraftprotz Rogoschin, Angelika Richters grandiose Kuppler-Generalin Jepantschina, Lena Schwarz' lasziv-ätherische Nastassja, Joerdis Triebels stark-verletzliche Aglaja - hier verrutscht kein einziges Porträt zum Klischee.

Am Ende schließt sich der dunkle Kreis: Während Myschkin noch das kleine Alltagsglück beschwört, schleift Rogoschin Nastassjas Leiche herein. Dann noch einmal Totenwache, Dunkelheit. Doch der tosende Applaus kennt keine Trauerfrist mehr.

Nächste Termine: 27. April, 8., 12. Mai, 19 Uhr; 13. Mai, 16 Uhr. Karten in den Bonnticket-Shops der GA-Zweigstellen und bei bonnticket.de

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