„Draußen rollt die Welt vorbei“ in der Werkstatt Ein Franz geht nie so ganz

Bonn · Die junge Regisseurin Mina Salehpour inszeniert Lukas Linders Tragikomödie „Draußen rollt die Welt vorbei“ in der Werkstatt. Selten kommt man den Schauspielern so nah wie hier.

 Den toten Franz vor Augen: Bernd Braun (links), Julia Keiling und Robert Höller.

Den toten Franz vor Augen: Bernd Braun (links), Julia Keiling und Robert Höller.

Foto: thilo beu

Franz ist tot. Aber so ganz gegangen ist er nicht. Für die sechs Personen in Lukas Linders Tragikomödie „Draußen rollt das Leben vorbei“ ist er weiterhin gegenwärtig: als Geist, als imaginärer Gesprächspartner, als Stimme aus einer leeren Pizzaschachtel. Linder, Jahrgang 1984, hat eine Bühnensituation konstruiert, in der ein Toter lange Zeit in seiner Wohnung liegt, ihm nahestehende Menschen wie Schwester und Nachbarn aber so tun, als existiere er noch.

„Es ist nicht meine Geschichte“, hat der Autor festgestellt. „Sie berührt mich. Aber ich bin sie nicht.“ Da kann er sich glücklich schätzen. Die Gemeinschaft, die in Mina Salehpours Uraufführungsinszenierung in der Werkstatt auftritt, ist gezeichnet: von Lebensüberdruss, Einsamkeit, Krankheit, Kommunikationsstörungen und Paranoia. Linders Stück ist ein Lebensgleichnis, er zeichnet ein absurd trauriges und grotesk komisches Verzweiflungsbild. Maria Anderski (Bühne und Kostüme) hat die Spielstätte mit wenigen Objekten möbliert – und einem Teppich mit Speckkäfermuster. Speckkäfer mögen Kadaver, sie werden gezielt von Museen eingesetzt – insbesondere Dermestes maculatus –, um Tierskelette von Weichteilen zu reinigen.

Die Schauspieler stecken in Textilien, die ihre Figuren charakterisieren. Bernd Braun als pensionierter Clown erscheint in seinem engen Pullover wie eingeschweißt. Laura Sundermanns fernsehfixierte Nelly trägt schlabbrigen Freizeitlook. Ursula Grossenbacher verkörpert mit wehendem Gewand und Sonnenbrille Adele Napf-Günsterloh, Schriftstellergigantin und abgedrehte Diva. Julia Keiling ist ihre Tochter He, sie könnte einem Märchen entsprungen sein – so wie der im weißen Anzug auftretende Kammerjäger Herr Kleinmann (Alois Reinhardt) einem Film. Robert Höller ist als Max Mogul das nervöse Zentrum des Bühnenkosmos. Er sieht rot, und er trägt Rot.

Das Ensemble, dem die Regisseurin Luft zur individuellen Entfaltung lässt, beherrscht den gehobenen, sprachverliebten und pointensüchtigen Ton des Autors. Die Inszenierung schwebt 80 Minuten lang über dem Boden der Realität. Doch die Schauspieler setzen auch Akzente, die unter die Haut gehen sollen. Ihre innere Leere projizieren die Figuren auf den abwesenden Franz. Der Tote ermöglicht den Menschen als unsichtbarer Gesprächspartner oder als Gast bei einer spiritistischen Sitzung, Visionen zu entwerfen und Sehnsüchte zu formulieren. Für He und Herrn Kleinmann zeichnet sich eine Glückskonstellation ab. Kann sein, dass sie sich bald duzen – aber erst nach Heirat und einigen Kindern.

War das nun ein großer Abend in der kleinen Werkstatt? Nein, dafür fehlen dem Stück dann doch Substanz und Dringlichkeit. Aber die intimste Spielstätte des Theaters ist der ideale Ort für szenische Experimente und neue dramatische Texte. Selten kommt man den Schauspielern so nah wie hier. Auf die Begegnung mit Laura Sundermann, Robert Höller, Bernd Braun, Alois Reinhardt, Ursula Grossenbacher und Julia Keiling sollten Theaterfans nicht verzichten.

Die nächsten Vorstellungen: 20., 23. und 28. April, 10. und 31. Mai. Karten gibt es in den Bonnticket-Shops der GA-Zweigstellen.

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