Im Porträt Film ab!

Bonn · Stefan Drößler, Direktor des Filmmuseums München, hat 1985 den Grundstein der Bonner Stummfilmtage gelegt. Ausgabe Nummer 32 startet am 11. August.

Die Männer auf dem Schlitten feuern die Hunde an. Müssten sie aber eigentlich gar nicht, denn das Wolfsrudel, das den Schlitten verfolgen soll, rennt gerade kreuz und quer durchs Bild. So sind Tiere nun mal, vor allem vor der Kamera. Stefan Drößler – Gründer und Kurator der Internationalen Stummfilmtage in Bonn und Direktor des Filmmuseums in München – lächelt kurz und stoppt „Die weiße Wüste“ auf der Leinwand des Kinos in der Brotfabrik.

Produzent John Hagenbeck und der Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler Ernst Wendt zogen 1922 alle Register, um den hohen Norden, in dem sich die Überlebenden eines Schiffsuntergangs gegen Kälte, wilde Tiere und Einheimische behaupten müssen, vor den Augen der Zuschauer zum Leben zu erwecken. Wie, das zeigt Drößler am Sonntag, 14. August, bei einem Vortrag über „John Hagenbeck und seine Raubtierfilme“ im Landesmuseum. Bevor sich „Die weiße Wüste“ am 18. August über die Leinwand im Arkadenhof des Unihauptgebäudes erstreckt; zur Livemusik von Günter A. Buchwald (Klavier, Violine & Viola) und Frank Bockius (Percussion).

„Das Material“, erklärt Drößler bei der Vorschau auf die 32. Stummfilmtage vom 11. bis 21. August, „stammt von Sammlern in Australien und Österreich. Wir mussten Fragmente, die sich schon zersetzten, miteinander kombinieren und Lücken schließen. Niemand wollte sich um den Film kümmern, weil er heute völlig vergessen ist und sich damit kein Geld machen lässt. Das Ganze war eine ziemliche Puzzlearbeit“, fügt Drößler hinzu.

„Ich spreche ungern von ,Restaurierung', weil dieser Begriff inzwischen für rein technische Arbeiten wie das Digitalisieren von Filmen verwendet wird. Unsere Arbeit nenne ich lieber ,Rekonstruktion'. Denn wir überarbeiten etwas, das nicht mehr vollständig überliefert ist.“ Das lasse sich mit Archäologie vergleichen, dem Zusammensetzen von Bruchstücken eines Objektes, um seine ursprüngliche Form wieder sichtbar zu machen.

Vieles, so ergänzt er, habe er von Enno Patalas gelernt, der das Filmmuseum von 1973 bis 1994 leitete und bei der Rekonstruktion deutscher Stummfilme Pionierarbeit leistete. „Damals gab es noch kein Studium, in dem man das Rekonstruieren und Restaurieren von Filmen lernen konnte. Man musste auf die Erfahrungen anderer zurückgreifen und sich vieles selbst aneignen.“

Die Faszination Film hat den heute 55-Jährigen schon als Schüler gepackt: Am Konrad-Adenauer-Gymnasium in Bad Godesberg gründete er eine Film-AG, die bald schon in mehreren Schulen Filme zeigte. Die Passion setze sich während des Studiums in Bonn fort; als Filmreferent des Bundesverbands Studentische Kulturarbeit, mit der Gründung eines studentischen Filmclubs sowie bei der Organisation von Filmfestivals und Filmseminaren.

1985 hob er gemeinsam mit Matthias Keuthen das Bonner Sommerkino aus der Taufe – drei Tage Freiluftkino im Poppelsdorfer Schloss, das von Anfang an Stummfilme mit Live-Musik im Programm hatte und aus dem 1995 die Stummfilmtage hervorgingen. 1986, bei der Eröffnung der Brotfabrik, übernahm Drößler die Geschäftsführung der Bonner Kinemathek und wechselte 1999 als neuer Direktor ans Filmmuseum in München. Dort ist er verantwortlich für ein ganzjähriges Programm und für Restaurierung und Rekonstruktion sowie für die filmhistorische DVD-Edition des Hauses.

Darüber hinaus betreut Drößler das DVD-Label Edition Filmmuseum, in dem die Filmarchive des deutschen Sprachraums ihre Filme veröffentlichen. Er hat Texte über Filmgeschichte und Filmtechnik veröffentlicht, Festivalkataloge und Programmhefte herausgegeben sowie Vorträge, Vorlesungen und Seminare im In- und Ausland gehalten: in Yale, Cambridge, in New York und Los Angeles.

Und woher rührt die Faszination Stummfilm? „Stummfilme mussten ihre Geschichten rein visuell erzählen. Gerade diese Qualität findet man in vielen heutigen Filmen nicht mehr“, antwortet Drößler spontan. „Die Stummfilmzeit macht ein Drittel der Filmgeschichte aus, aber fast 90 Prozent der Stummfilme gelten als verloren. Was wir heute sehen, ist die absolute Spitze des Eisbergs.“

Dennoch gebe es immer noch genug zu entdecken – um die gängigen Vorurteile gegenüber dem Stummfilm ad Absurdum zu führen: „zum Beispiel dass das Bild immer zu schnell laufe, die Gestik der Schauspieler oft völlig überzogen sei und die Bildqualität schlecht. Aber das stimmt so nicht. Spätestens in den 1920er Jahren gab es Filme mit modernen Erzählweisen und hohen technischen Standards. Viele Stummfilme waren in ihrer visuellen Qualität so innovativ, dass die Einführung des Tonfilms 1929 manchem wie ein Rückschritt vorkam.“

Aber auch künstlerisch wenig anspruchsvolle Filme wie „Vom Reiche der sechs Punkte“ oder „Der Bettler vom Kölner Dom“ – vor knapp 100 Jahren in Köln, Düren und im Bonner Umland gedreht – besitzen als Zeitzeugnisse einen unschätzbaren Wert. Reizvoll ist auch, zu sehen, dass viele Stoffe immer wieder neu verfilmt wurden: „Von 'Cyrano de Bergerac', 'Robin Hood' und sogar von 'Titanic' gibt es sehr schöne Stummfilmversionen, die wegen aktueller Remakes besonders großes Interesse fanden.“

Als einen der Schwerpunkte und Herausforderungen seiner Arbeit nennt er den filmischen Nachlass von Orson Welles. „Das Material ist überall auf der Welt verstreut. Und man weiß nie so recht, ob das, was man da hat, vollständig ist. Deshalb ist die digitale Technik für uns ein Segen: Man kann die Filme immer wieder überarbeiten, sobald neues Material auftaucht, ohne dass man durch analoge Umkopierungen Bildqualität verliert “, erläutert Drößler.

Die Digitalisierung ist also keineswegs der „Feind des Stummfilms“. Allerdings räumt er auch ein: „Man kann dabei natürlich leicht übers Ziel hinausschießen. Auf einer Podiumsdiskussion in China bekam ich zu hören: ,Ihr Europäer restauriert, um zum Original zurückzukehren. Wir in China restaurieren einen Film, um ihn besser zu machen als er damals war'.“ Dies ist für Drößler tatsächlich ein Tabu: „Der historische Charakter des Material ist zu respektieren und muss erhalten bleiben.“

Generell, ergänzt Drößler, sei die Rekonstruktion historischen Materials ein „stetig fortlaufender Prozess. Entweder verbessert sich die Technik oder das Wissen, oder es wird neues Material gefunden.“ Der spektakulärste Fund war 2008 eine Kopie von Fritz Langs „Metropolis“ in Buenos Aires. Die damit ergänzte und nun 153 Minuten lange Originalversion war der Höhepunkt der Stummfilmtage 2010.

„Es gibt nicht viele Filme wie 'Metropolis', 'Nosferatu', 'Panzerkreuzer Potemkin' oder 'Goldrausch', deren Titel jedem bekannt sind. Von Anfang an haben wir deshalb pro Jahr nur ein oder zwei bekannte Titel im Programm. Mir als Kurator ist die Vielfalt wichtiger – von amerikanischen Komikern bis zu dadaistischen Elementen aus Frankreich. Und natürlich immer wieder Raritäten wie 'Homunculus' aus dem Jahr 1916, an dem ich sieben Jahre lang gearbeitet habe. Wenn Filme eines bestimmten Regisseurs wie René Clair, eines bestimmten Schauspielers oder aus einem Land wie Japan beim Publikum besonders gut angekommen sind, berücksichtigen wir das bei der Programmauswahl fürs nächste Jahr. So gibt es immer wieder Linien, die dem Zuschauer die Möglichkeit, das Werk eines Künstlers oder eine bestimmte Stilrichtung über die Jahre weiterzuverfolgen.“

Am Programm wird bis zur letzten Minute gefeilt – weil sich immer noch kurzfristig etwas ändern kann. „Diese Aktualität und Abwechslung macht unser Festival einzigartig. Dafür lohnt es sich, den Urlaub hier zu verbringen.“ So wie er auch bei sich daheim in München immer wieder Bonner treffe, die einem Film nachgereist sind, um ihn im Herbstprogramm des Filmmuseums, das die Höhepunkte des Bonner Programms Anfang September nachspielt, noch einmal zu sehen.

„Wir haben hier in Bonn in rund 30 Jahren bisher mehr als 750 Stummfilme gezeigt. Und es ist überhaupt kein Problem, die nächsten 30 Jahre zu füllen. Die Planung laufen kontinuierlich weiter, fürs nächsten Jahr sind schon die ersten Filme und Gäste ins Auge gefasst“, wie Drößler mit einem Lächeln schließt.

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