Große Ausstellung in der Bundeskunsthalle Goethe unter der Lupe
Bonn · In Bonn ist jetzt die herausragende Schau „Goethe. Verwandlung der Welt“ zu sehen. Sie zeigt auch, dass jede Zeit "ihren" Goethe hat.
Christian Wulff hat als Bundespräsident nicht sehr viele Spuren hinterlassen. Aber am 3. Oktober 2010 ließ er eine Bombe platzen, deren Hall noch heute nicht verflogen ist. Am 20. Jahrestag der Deutschen Einheit sagte er: „Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ Das hatte Wirkung. Das Staatsoberhaupt bezog sich ausdrücklich auf Johann Wolfgang von Goethes Werk „West-östlicher Divan“ und zitierte den Klassiker: „Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.“
1819, also vor 200 Jahren, entstand der „West-östliche Divan“, der sich der Lyrik des persischen Dichters Hafis widmet. 2010/2011 standen dieses Zitat, dieses Buch im Brennpunkt einer hitzigen Debatte, die in deutschen Feuilletons wütete. Literaturwissenschaftler, Historiker und Publizisten schalteten sich ein, jeder führte seinen persönlichen Goethe ins Feld – ein bizarres Erlebnis. „Alle fanden bei Goethe, was sie suchten, mal in philologisch konziser Beweisführung, mal im pauschalen, auf jede Differenzierung verzichtenden Zugriff“, meint Thorsten Valk von der Klassik Stiftung Weimar, der die herausragende Goethe-Ausstellung in der Bundeskunsthalle konzipiert hat.
Die unter anderem auch durch den gnadenlosen Populisten Thilo Sarrazin befeuerte Debatte schlug hohe Wellen, unterstrich die bleibende Aktualität, den Rang und die Autorität von Deutschlands Nationaldichter Nummer eins und endete mit einem Fazit von Gustav Seibt in der „Süddeutschen Zeitung“: „Das Resultat der Diskussion war ja von der ersten Sekunde an absehbar: Goethes hintergründiges, halb ehrfürchtiges, halb spielerisches Verhältnis zum Islam taugt nicht fürs Parteigeschrei der Islamhasser und ihrer Gegner.“
Valk widmet Goethe, dem Islam und der Debatte eines von neun pointierten Kapiteln in der Bundeskunsthallen-Ausstellung „Goethe. Verwandlung der Welt“, deren Titel zwei große Epochenwechsel umfasst. Der eine betrifft Goethe selbst, der 1749 in Frankfurt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation geboren wird, als Knabe der Kaiserkrönung beiwohnt, mit Grausen und Abscheu den Blutrausch der Französischen Revolution erlebt, den hochverehrten Napoleon aufsteigen und fallen sieht, den Beginn der Industriellen Revolution mitbekommt und 1832 in Weimar am Vorabend der Moderne stirbt.
Der zweite Epochenschritt betrifft die Goethe-Rezeption. Von 25 Jahren fand die letzte große Schau des Klassikers in der Frankfurter Schirn statt. Seitdem ist viel geschehen und geforscht worden. In Bonn wird nun eine Neubewertung probiert. Jeder Zeit ihren Goethe. Goethe 2019 startet mit fünf berühmten Porträts, die den Meister als jungen Stürmer und Dränger, als Visionär, als Staatsmann, etablierten Dichter und weisen Herrn zeichnen. Dann führt der Weg zu einem Rondell, in dem – halb versunken – die Überreste von Goethes Reisekutsche (eine Installation von Asta Gröting, 2011-12) stecken. Dann öffnen sich schmale Durchgänge – es gibt viele Wege zu Goethe in dieser von Space 4 aus Stuttgart meisterhaft und mit einem gewagten, sehr bunten Farbkonzept inszenierten Schau: Man kann sich ihm konventionell nähern – von den frühen Frankfurter Jahren bis zum späten Goethe am Weimarer Frauenplan, wo man der Musealisierung des Genies beiwohnen kann; spannender ist der thematische, zeitgeistige Zugriff, etwa beim Kapitel „West-östlicher Divan“, bei „Welt der Moderne. Faust – eine Tragödie“ mit Bühnenbildern, Erstausgaben, Kino- und Theaterszenen oder bei „Arkadische Welt. Die Reise nach Italien“, wo ein Bogen von Goethes Liebe zur Antike und zu Rom bis zur Italienbegeisterung der Deutschen allgemein und speziell der fulminanten Italophilie des Malers Cy Twombly geschlagen wird.
Es gibt überhaupt viel Kunst in Goethes Windschatten: Die Farblehre des Meisters führt zu einem hochkarätigen Potpourri der Moderne von Josef Albers und Mondrian bis Otto Freundlich, Olafur Eliasson und zum rotglühenden „Farbrausch“ von Regine Schumann. Gleich anschließend der Rausch der Romantik mit Werken von Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich. Manches ist näher an Goethe, manches doch arg weit entfernt.
Faszinierend, wie emotional die Welt auf Goethe reagierte. Wunderbar das Kapitel über „Die Leiden des jungen Werthers“, dessen Geschichte und Freitod Zeichner, Maler und Literaten zu ergreifenden Werken inspirierten. Sogar im Porzellanservice wird das Drama von Werther und Lotte zum Thema. Hohe Emotionen auch bei einer zauberhaften Marmorbüste von Auguste Rodin: Mignon, jene rassige Sehnsuchtsfigur aus Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, die Maler, Bildhauer wie Komponisten schier um den Verstand brachte. Man hört Mignon-Vertonungen von Ludwig van Beethoven, Franz Schubert und Robert Schumann, sieht Bilder und Postkarten der Mignon-Manie um 1900. Eine überaus sehens-, lesens- und hörenswerte Schau.