Dichtung trifft Wahrheit Goethes Welt in der Bundeskunsthalle in Bonn

Bonn · Mit einer Serie begleitet der GA die aktuelle Ausstellung der Bonner Bundeskunsthalle. Diese Folge widmet sich den „Leiden des jungen Werthers“.

Der Anblick des jungen Karl Wilhelm Jerusalem war ein schockierender: „Er hatte sich vor dem Schreibtisch, in einem Lehnstuhl sitzend, mit der Pistole vorn gerade in den Kopf über das rechte Auge und hinten wieder herausgeschossen, so daß ein Stück der vorderen Hirnschale herausgesprungen war. Er muß vom Stuhl heruntergefallen sein, Wo noch viel Blut zu sehen war, auch am Schreibtisch. Abends um dreiviertel elf ward Jerusalem in aller Stille begraben. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.“

Was die ganze Sache für den Juristen Johann Christian Kestner, der diesen Eindruck vom Tatort seinem Tagebuch anvertraute, noch schlimmer machte, war der Umstand, dass er selbst dem verzweifelten Jerusalem die Tatwaffe ausgehändigt hatte. Erst wenige Stunden vor dem Suizid, der sich am späten Abend des 29. Oktober 1772 in einem Fachwerkhaus am Barfüßer Bach in Wetzlar zutrug, war ein Bediensteter Jerusalems bei Kestner vorstellig geworden und hatte ihm einen Zettel überreicht – mit Jerusalems knapp formuliertem Anliegen: „Dürfte ich Ew. Wohlgeb. wohl zu einer vorhabenden Reise um Ihre Pistolen gehorsamst ersuchen?“

Eine der beiden Reisepistolen, die der völlig arglose Kestner dem Boten überreichte, kann man derzeit in der Ausstellung „Goethe. Verwandlung der Welt“ in der Bundeskunsthalle in Bonn betrachten. Klein und harmlos schaut sie aus, fast mehr ein Spielzeug als eine tödliche Waffe. Berühmt wurde sie weniger durch den Selbstmord des 25-jährigen Jerusalem als durch die literarische Verarbeitung und Überhöhung des Geschehens durch Johann Wolfgang von Goethe in seinem Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ (das altertümlich wirkende Genitiv-s strich Goethe in der zweiten Fassung), der 1774 in Leipzig zunächst anonym erschien. Der liebeskranke Titelheld Werther verschafft sich unter demselben Vorwand ein Paar todbringende Schusswaffen. Die sehr bald folgende und mit Namen versehene zweite Auflage des „Werthers“ machte Goethe über Nacht zu einem Superstar der damaligen Literaturszene.

Goethe in Wetzlar

Der junge Autor der empfindsamen Liebesgeschichte war selbst Teil jener amourösen Verstrickungen, die mit Jerusalems Tod einen traurigen Ausgang fanden. Der damals 22-jährige Jurastudent Goethe hielt sich auf Drängen seines Vaters für eine Weile in Wetzlar auf, um als Praktikant beim Reichskammergericht ein wenig Einblick in die Praxis seines Fachs zu erhalten. Hier kam es zu einer Wiederbegegnung mit Jerusalem, den er bereits vom gemeinsamen Jurastudium in Leipzig kannte und der 1771 als braunschweigischer Legationssekretär in die Stadt gekommen war. Außerdem freundete er sich mit dem sieben Jahre älteren Kestner an, der als Kammergerichtssekretär einer Bremer Visitationsabordnung am Reichskammergericht wirkte. Im Roman ist er unschwer als Albert wiederzuerkennen: Denn mehr noch als der Freund gefiel Goethe dessen Verlobte, die 19-jährige, ausnehmend hübsche Amtmannstochter Charlotte Buff, die im „Werther“ als Lotte die Bühne betritt. Während in dieser Figurenkonstellation Goethe selbst Vorbild für seinen Titelhelden ist, hat er dessen Ende nach Jerusalems Schicksal geformt, der sich wegen seiner unerwiderten Liebe zu der verheirateten Elisabeth Herd das Leben nahm. An jenem schicksalhaften Oktobertag war Goethe allerdings nicht mehr in der Stadt. Er ließ sich über den Hergang des Geschehens jedoch ausführlich durch Kestner berichten.

Die frühen Leser des Romandebüts wussten durchaus von den Ereignissen in Wetzlar. Sowohl die Liebe zu Charlotte Buff als auch der Freitod Jerusalems „haben die Rezeptionsgeschichte des Buchs von Beginn an begleitet“, schreibt Christoph Wingertszahn, Direktor des Goethe-Museums Düsseldorf, in seinem Beitrag für den Katalog zur Bonner Goethe-Ausstellung. Doch der durchschlagende Erfolg erklärt sich kaum allein aus der geschickten Verquickung von Dichtung und Wahrheit im „Werther“. Wingertszahn nennt noch einen weiteren, entscheidenderen Faktor: „Der Werther hat seine zumeist jugendlichen Leserinnen und Leser in besonderer Weise zum identifikatorischen Lesen eingeladen.“

Es geht um Gefühlswelten

Diese besondere Rezeption ist ein Aspekt, der die Ausstellung in der Auswahl der Exponate auf eindrucksvolle Weise nachspürt. Da geht es vor allem um „Gefühlswelten“, wie auch der Werther-Abschnitt der Ausstellung überschrieben ist. Diese Gefühlswelten können bieder, kitschig, aber auch authentisch und modern herüberkommen und werden in Zeichnungen, Gemälden, schriftlichen Zeugnissen und Filmausschnitten etwa aus Eberhard Itzenplitz' Verfilmung von Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ von 1976 sichtbar gemacht. Ein Reisekoffer, der ein hübsches Service der Staatlichen Porzellanmanufaktur Meissen mit Szenen aus dem „Werther“ aus dem Jahr 1789 enthält, ist ein schönes Beispiel aus den ersten Jahren der „Werther“-Rezeption. Und nebenbei frühes Zeugnis einer geschickten Merchandisingstrategie.

Goethe sah sich unmittelbar nach Erscheinen des Romans wenig überraschend mit dem Vorwurf konfrontiert, den Selbstmord zu verherrlichen. Auf Antrag der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig wurde der „Werther“ Anfang 1775 sogar verboten. „Der Vertrieb ließ sich indes nicht stoppen“, berichtet Wingertszahn. Aber er weiß auch: „Die lange Zeit behauptete Selbstmordwelle, die das Buch ausgelöst haben soll, hat nicht stattgefunden.“

Doch auch wenn es die Selbstmordwelle so nicht gegeben hat, sah Goethe sich genötigt, in der zweiten Auflage dem zweiten Romanteil ein warnendes Motto voranzustellen, das er seinen traurigen Helden aus dem Grab sprechen lässt: „Sey ein Mann, und folge mir nicht nach.“

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