Siegburger Literaturwochen Heiner Geißler: "Wutbürger sind eine Chance"

SIEGBURG · Eigentlich war Heiner Geißler gekommen, um aus seinem neuesten Buch "Sapere aude!" (lateinisch wage zu denken) im Rahmen der Siegburger Literaturwochen zu lesen. Doch der Politiker und Buchautor referierte am Sonntagmorgen in der Aula des Stadtmuseums fast die gesamten eineinhalb Stunden frei - und las nur ganz vereinzelt aus seinen Aufzeichnungen.

Der Titel des Buches "Sapere aude!" ist ein Zitat des lateinischen Dichters Horaz, das der Philosoph Immanuel Kant zum Leitgedanken der Aufklärung erhob. Geißler hat ihn gewählt, weil er die Menschen in der heutigen Zeit in der gleichen Unmündigkeit sieht wie die vor mehr als zweihundert Jahren.

Mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch stellt Geißler die seiner Meinung nach Schuldigen an den Pranger und zeigt den "Wutbürger", der sich nicht mehr alles gefallen lässt. Die autoritäre "Basta"-Politik, der ökonomische Absolutismus, islamischer und katholischer Fundamentalismus stehen bei ihm im Fokus.

Seiner Meinung nach haben die Bürger das Vertrauen in die Politik verloren, Politiker die Demokratie den Finanzmärkten ausgeliefert. Er nennt sie "Getriebene der Finanzmärkte", die zu "Erfüllungsgehilfen der Kapitalinteressen geworden sind". In Zeiten der "krassen Ungerechtigkeiten" bieten nach Geißlers Meinung auch die Religionen keine wahre Führung an.

"Was wir dringend brauchen, ist eine neue Aufklärung, eine Revolution im Denken und Handeln", lautet daher sein Fazit, und er fordert im Sinne Kants den Aufbruch aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, denn diese Unmündigkeit liege "nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes".

Heiner Geißler (83), Philosoph und Jurist, war Sozialminister in Rheinland-Pfalz, Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit und zwölf Jahre Generalsekretär der CDU. Nach eigenen Angaben lagen die Schwerpunkte seiner politischen Tätigkeit stets auf der weltweiten Durchsetzung der individuellen und sozialen Menschenrechte und auf dem Kampf gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem zugunsten einer internationalen Sozial-Ökologischen Marktwirtschaft.

Er fordert die Orientierung der Politik an einem ethisch fundierten, dem christlichen Menschenbild. Geißler, der als streitbarer Sozialpolitiker gilt, hat sich auch als Bestseller-Autor und Redner einen Namen gemacht. Er ist seit 2007 Attac-Mitglied und fand zuletzt als Stuttgart-21-Schlichter viel Beachtung in der Öffentlichkeit.

Dieter Pollmann (78) aus Bonn, der das Buch nicht gelesen hat, gehört wie Geißler zu Attac und hält dessen Warnung vor der Macht der Finanzmärkte für unbedingt nötig, sagte er bei der Lesung. Und Helene Schneider (74) aus Siegburg begrüßte ausdrücklich die Ausführungen des Autors bezüglich der Rolle der Frau in den Lehren der drei großen Religionen.

Geißler prangert an, zeigt Missstände auf und macht gleichzeitig Hoffnung mit seinem Buch. Er sieht, dass die Menschen "ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen", weil sie das Vertrauen in die Politik verloren haben, nicht mehr "brav eine Zumutung nach der anderen schlucken, sondern aufbegehren. Sie befreien sich endlich aus ihrer Unmündigkeit."

Der "Wutbürger" wird sich auf jeder Seite des Buches bestätigt fühlen, wer noch zaudert, zum zivilen Widerstand ermutigt. Geißler sagt: "Die Wutbürger sind keine Gefährdung, sondern eine Chance für die repräsentative Demokratie."

Heiner Geißler: Sapere aude! Warum wir eine neue Aufklärung brauchen, List Taschenbuch, 156 Seiten, 9,99 Euro.

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