Theater Bonn spielt "Faust" Hinein ins volle Menschenleben

BONN · Goethes "Faust" ist eine Herausforderung. Das Stück, bemerkte sein Verfasser, "ist doch ganz etwas Incommensurables, und alle Versuche, ihn dem Verstand näherzubringen, sind vergeblich".

 Gruppenbild für Goethe: Alice Buddeberg inszeniert "Faust I" (Probenfoto) in den Kammerspielen. Premiere ist am Freitag.

Gruppenbild für Goethe: Alice Buddeberg inszeniert "Faust I" (Probenfoto) in den Kammerspielen. Premiere ist am Freitag.

Foto: Thilo Beu

Bernhard Hartmann

Darüber lässt sicht trefflich streiten. Der Göttinger Germanist Albrecht Schöne hat im Deutschen Klassiker Verlag einen umfangreichen Kommentarband zu "Faust I" und "Faust II" veröffentlicht. Auf mehr als 1000 Seiten bringt er dem Leser das unvergleichliche Werk nahe. Am Freitag hat "Faust I" (ausverkaufte) Premiere in den Kammerspielen Bad Godesberg. Fünf GA-Redakteure haben ganz persönliche An- und Einsichten zum "Faust" aufgeschrieben.

Der Mann hieß Pieper und war mein Deutschlehrer in der Mittelstufe. Sein Vorname? Vergessen. Sicher ist: Er lautete weder Johann, noch Wolfgang. Und doch ist er für mich auf ewig mit Goethes "Faust" verbunden, der Mann, der von seiner Pfeife rauchenden Studentenliebe schwärmte und meine Mädchenklasse durch Nonkonformismus und gezielte Provokationen zu Höchstleistungen anspornte. Seite an Seite mit dem ewigen Mephisto Gustaf Gründgens, den wir in der verfilmten Hamburger Inszenierung aus den 60er Jahren bewunderten, wie er mit kühler Ironie und bleichem Gesicht die Faszination des Bösen verkörpert und trotzdem das Gute schafft. Irreführend? Gerade das beflügelte den Aha-Effekt, dass eine staubige Tragödie des 19. Jahrhunderts etwas mit der Lebenswirklichkeit von Schülerinnen einer Mädchenklasse zu tun hatte. Mit spannenden Fragen nach Liebe, Freiheit und Verantwortung, auf die es auch heute keine eindeutigen Antworten gibt. Anders als auf die für uns damals auch nicht ganz unbedeutende Frage, ob es ratsam ist, zu jungen, testosterongesteuerten Kerlchen ins Auto zu steigen, die sich vor dem weiblichen Geschlecht produzieren wollen. Auch darauf wusste Deutschlehrer Pieper eine aus dem "Faust" entlehnte Antwort: "Kann ungeleit nach Hause gehen ..." Sicherheitshalber. Sylvia Binner

Was motiviert den Faust? Das "unstillbare Verlangen nach Weltgewinn und Ich-Erweiterung", hat Albrecht Schöne festgestellt. Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki übersetzte das in Alltagsprosa. Die Begierde nach Lebensgenuss, die Sucht nach Selbstverwirklichung bewegten Goethes Figur: "Diese Sucht gleicht einer dämonischen Triebkraft." Ein Opfer der Sucht ist meine Lieblingsfigur: Margarete, besser bekannt als Gretchen. Faust, der nach Einnahme eines Zaubertranks "Helenen in jedem Weibe" sieht, verführt, schwängert und verlässt Gretchen. Ihr Schicksal scheint ihm gleichgültig. Die Frau, die sündigt, weil sie liebt, die Mutter und Kind tötet und im Gefängnis landet, müsste ihn eigentlich verabscheuen. Doch Gretchen liebt, und sei es auch ohne Chance auf Gegenliebe. Goethe hat eine großartige Love Story geschrieben. Gretchens Monolog am Spinnrad ("Meine Ruh' ist hin /Mein Herz ist schwer") drückt in gerade einmal 40 Versen alles aus, was man über die Liebe wissen muss.

Dietmar Kanthak

Faust" verramscht - und nicht nur der "Faust": Da stand sie, die 36-bändige Goethe-Gesamtausgabe der J. G. Cotta'schen Buchhandlung von 1890 im Pappkarton; der Verkäufer hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie auszupacken. Einige Bände lagen herum in der vagen Hoffnung, auf diesem Weihnachtsbasar - das stimmt wirklich - einen Käufer zu finden. Der Rest staubte im Karton vor sich hin. Man einigte sich auf 20 Euro inklusive Karton. Es war mein letzter Weihnachtsbasar - und der Wiederanfang einer längst erkalteten Liebe. Natürlich habe ich den Goethe in zerfledderten Reclam-Bändchen, aber das hier atmete Geschichte. Ich blätterte hier, blätterte dort auf der Suche nach Spuren der Vorbesitzer - hier ein zarter Bleistiftstrich, dort ein Eselsohr. Dass ich beim "Faust" landete, war kein Zufall, ich habe diese Wiederbegegnung gesucht - und genossen, mich von Bonmot zu Bonmot gehangelt. "Who the Fuck ist Faust"? hieß ein Comic von Flix, der damals gerade, 2009, über fünf Monate lang in der FAZ abgedruckt wurde. Faust als Berliner Taxifahrer. Geht's noch? Lustig, originell, aber das Original ist unschlagbar. In meinem Bücherschrank. Thomas Kliemann

Dieses Buch ist nicht einfach nur groß. Es ist ein Monstrum. Für den Autor etwa: 60 Jahre Arbeit! Aber auch für den Germanisten, den Philosophen, den Literaturhistoriker, den gequälten Deutsch-Abiturienten (mich, zum Beispiel). Wer über den "Faust" schreiben will oder muss, der fragt sich: Was bedeutet das alles? Dem Leser geht ein Mühlrad im Kopf zwischen den gleich drei Vorworten, dem "Ewig Weiblichen" am Schluss (was immer das sein mag) und dem bunten Gewimmel dazwischen. Auch 26 Jahre nach dem Abi und trotz aller Interpretationshilfen bleibt die Frage ungelöst: Was ist bloß dieses Buches Kern? Ein Casus macht mich dabei stets lachen - dass sogar der Autor einst sagte: "Als ob ich das selber wüßte!". Ein Welt-Werk, vor dem alle Theorie ergraut - grüblerisch und zupackend, mystisch und bodenständig, elitär und kapitalismuskritisch. Was bedeutet das? Alles. Ich bilde mir nicht ein, was Rechts drüber zu wissen. Es schwarz auf weiß zu Haus zu haben (Insel-Gesamtausgabe, 1942) und immer strebend mich zu bemühen - das soll mir reichen.

Wolfgang Pichler

Ich habe den Eindruck, er zitiert immer Goethe", ätzte der große Alfred Döblin gegen den "Faust". Ich habe Döblin, den Autor des Großstadtromans "Berlin Alexanderplatz", immer sehr geschätzt. Aber trotz seines bösen Bonmots konnte ich nicht widerstehen, den "Faust" nicht nur zu lesen, sondern mir auch die 1960 in die Kinos gekommene Verfilmung des Bühnenstoffes mit Will Quadflieg als Faust und Gustaf Gründgens als Mephisto anzuschauen. In den 80er Jahren lief der "Faust" regelmäßig im Rex-Kino, und ihn zu sehen, war jedes Mal ein Ereignis.

Was den Streifen, der im Grunde eine recht kuriose Mixtur aus abgefilmtem Theater und eigenständigem Film ist, bis heute so attraktiv macht, ist die nuancenreiche Sprechkunst seiner Darsteller, allen voran natürlich die des diabolisch weiß geschminkten Gustaf Gründgens, der diese Rolle in seiner 40-jährigen Theater-Karriere an die 600 Mal gespielt hat. Zwar widerlegt selbst Gründgens' Kunst Döblins Diktum nicht wirklich, aber wenn der Schauspieler die Verse abfeuert, als wären es mit Zynismus getränkte Giftpfeile, ist jeder Widerstand betäubt.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort