lit.Cologne Historiker Ian Kershaw spricht über Europa

Köln · Der britische Historiker blickt auf der lit.Cologne auf ein halbes Jahrhundert Geschichte zurück. Einen Blick in die Zukunft möchte er jedoch nicht wagen.

 „Sagen sie das einmal einem Ex-Jugoslawen“: Historiker Ian Kershaw in Köln.

„Sagen sie das einmal einem Ex-Jugoslawen“: Historiker Ian Kershaw in Köln.

Foto: Thomas Brill

Als er vor zwei Jahren in Köln mit „Höllensturz“ den ersten Teil seiner Jahrhundertchronik vorstellte, die bis zum Jahr 1950 reicht, sprach Ian Kershaw schon von den Schwierigkeiten, die ihm der zweite Band bereitete. Nun präsentierte der englische Historiker im Rahmen der lit.Cologne „Achterbahn – Europa 1950 bis heute“.

Für einen Historiker ist es eine dankbare Aufgabe zu zeigen, „wie Europa in den ersten Krieg hinein und wieder hinaus kam, und dann in den zweiten Krieg hinein und wieder hinaus kam“. Die Jahre nach 1950 sind aber nur scheinbar ein gerader Weg in Richtung Wohlstand und Frieden. „70 Jahre Frieden, sagen Sie das einmal einem Ex-Jugoslawen oder Ukrainer“, zitiert Kershaw einen Ausspruch von Emmanuel Macron. Das Bild einer Achterbahn, auf der es Fortschritte und Rückschläge gab, schien ihm treffender. Wie unberechenbar sich die Weichenstellungen der Historie geben, beschreibt Kershaw anhand des Brexit, dessen Initiator, Boris Johnson, er als „Schnösel“ bezeichnet. Als Faux Pas will Kershaw diesen Begriff nicht verstanden wissen, wie er Moderator Jürgen Wiebicke erklärt, „denn ich pflege mich höflich auszudrücken“.

Wiebicke möchte von Kershaw zu gerne wissen, wie es nun mit Europa in der Zukunft weiter geht. Die Glaskugel bleibt jedoch trüb. Kershaw gibt zu bedenken, dass sich Weltgeschehen nicht alleine strukturell aus historischem Wissen voraussagen lässt. Es reicht nicht, in den Rückspiegel zu schauen, da auch der Zufall und das Geschick der Mächtigen eine Rolle spielt. Dass England überhaupt in den Brexit hinein gestolpert ist, führt Kershaw auf die „schwache Persönlichkeit“ David Camerons zurück, der aus politischem Kalkül die Volksbefragung initiiert habe. „Fatalerweise haben die Menschen jene Fehler der EU in die Schuhe geschoben, die eigentlich in London gemacht wurden“, sagt er.

Die Rolle des Einzelnen in den Blick gerückt

Kershaw relativiert das Potenzial historischen Wissens, indem er die Rolle des Einzelnen in den Blick rückt. Kein einziger Historiker sei ihm bekannt, der zu Beginn der 80er Jahre den Zusammenbruch des Sozialismus prophezeit habe. „Das Ausmaß des persönlichen Engagements von Michail Gorbatschow ist deshalb nicht zu unterschätzen. Ohne seine Entschlossenheit wäre die Geschichte anders verlaufen“, meint der 72-jährige Engländer, der den Abend im Großen Sendesaal des WDR in fließendem Deutsch bestritt. „Die Personen befinden sich ihrerseits in einer Situation, die sie nicht kontrollieren können“, gibt Kershaw zu bedenken, der davon ausgeht, „dass Gorbatschow noch 1985 ein eingefleischter Kommunist war, der die Sowjetunion reformieren wollte, sie letztlich jedoch zerrüttete“.

„Man will aus der Geschichte lernen und steht in der Gegenwart im Nebel“, meint Jürgen Wiebicke, der Kershaws Enthaltsamkeit gegenüber jeder Art von Prognose nicht recht zu akzeptieren vermag. „In gefährlichen Gewässern bleibt der Konvoi besser zusammen und löst sich nicht auf“, diesen Ratschlag mag Kershaw Europa geben. „Gutes Navigieren ist gefragt“, meint er und betrachtet doch „die Furcht der Menschen vor einem Identitätsverlust“ und ihre Neigung „ins Nationale zu gehen“ als Tatsache. Wobei man daran erinnern könnte, dass Europa mit dieser Art Rückzug in den Nationalismus immer schlecht gefahren ist. „Für die Freiheit, die wir heute haben, ist hart gekämpft worden. Diese Freiheit müssen wir verteidigen!“ Das ist der Appell des kleinen Mannes mit den leuchtend roten Socken in seinem Schlusswort, bevor die Verehrung seines applaudierenden Publikums wie ein warmer Regen auf ihn nieder prasselt.

Ian Kershaw: Achterbahn – Europa 1950 bis heute. Deutsch von Klaus-Dieter Schmidt. Deutsche Verlagsanstalt, 832 S., 38 Euro

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