Anohni im Kölner E-Werk "Hoplessness"-Tour: Gefühle unter Gazeschleier

Köln · Das Gegenteil von konventionell: Anohni gibt eine großartig-gruselige Konzertperformance im E-Werk in Köln.

 Schattenriss mit Kapuze: Anohni vor einer Videoleinwand.

Schattenriss mit Kapuze: Anohni vor einer Videoleinwand.

Foto: Thomas Brill

Wenn Künstler ein Konzert geben, stehen sie üblicherweise gut ausgeleuchtet ganz vorne auf der Bühne. Sie begrüßen ihr Publikum, sie stellen ihre Band vor, und am Schluss bedanken sie sich mit einer oder mehreren Zugaben. Anohni, bis 2015 der Öffentlichkeit bekannt als Antony Hegarty von der Band Antony & The Johnsons, tut im E-Werk nichts davon.

Die 44-Jährige ist die meiste Zeit nur als Schattenriss mit Kapuze und weiter Tunika vor einer riesigen Videoleinwand auszumachen. Die wenigen Male, in denen es um sie herum etwas heller wird, erkennt man, dass man trotzdem nichts erkennt. Vor dem Gesicht trägt die britisch-amerikanische Sängerin und Komponistin einen dunklen Gazeschleier.

Während der 60 Minuten, die Anohni körperlich anwesend ist, richtet sie nicht einmal das Wort an die Zuschauer im bestuhlten Innenraum. Ihre Begleiter, die sie an Laptops flankieren, bleiben namenlose Dunkelmänner, statt weiterer Stücke von ihrem Anfang Mai erschienenen Album „Hopelessness“ steht am Ende eine Ansprache der australischen Künstlerin Ngalangka Nola Taylor, die dazu mahnt, pfleglicher mit unserer Welt umzugehen.

Die Vorband ersetzt ein 18-Minuten-Video, das Naomi Campbell knapp bekleidet in einer Tiefgarage zeigt, minimalistische Bewegungen zu elektronischer Meeresmusik ausführend. Auf manche hat das eine meditative Sogwirkung, andere flüchten.

Anohnis Performance im E-Werk – in Gänze, inklusive Vorfilm und Nachrede dauert sie 82 Minuten – ist großartig und gruselig zugleich. Großartig, weil die Stimme, die da aus dem Dunkel emporpulst und von zerstörter Umwelt („4 Degrees“), gescheiterter Politik („Obama“) oder der Todesstrafe („Execution“) singt, eine unglaubliche Ausstrahlung besitzt.

Sie kann sich arienhaft in höchste Höhen steigern („Why Did You Separate Me From the Earth?”), so stark und verletzlich zugleich wie Billie Holiday klingen („I Don't Love You Anymore“) oder so glutvoll-glamourös wie Shirley Bassey („Marrow“).

Kontrastiert wird das mit mechanischem Klackern und synthetischem Surren, Peitschen sausen hernieder, quietschende Industriegeräusche schrauben sich ins Ohr, dazwischen zerhackte Pianoläufe, eine Ahnung von Weichheit, dann wieder Beats so hart wie Eisenfäuste. Aus beidem, der Unsichtbarkeit derer, die das produzieren, und den Gefühlen, die das auslöst – Beklemmung, Distanz, Künstlichkeit – resultiert der Grusel. Anohni zelebriert die Unmenschlichkeit.

Für die Reaktion darauf stehen wechselnde Frauenantlitze, die in Nahaufnahme auf der Videoleinwand gezeigt werden. Alte und junge Frauen, geschminkte und ungeschminkte, aus unterschiedlichen Ländern stammend und unterschiedlichen Ethnien zugehörig. Fast immer bewegen sie synchron mit Anohnis Gesang die Lippen, manchmal werden ihre Gesichter überblendet und verfremdet, oft füllen sich ihre Augen mit Tränen.

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