Iván Fischer kommt nach Bonn Im Elfenbeinturm fühlt er sich nicht zu Hause

Zwei Dinge fallen dem Dirigenten Iván Fischer schwer: weghören und wegsehen. Als der Chef des Berliner Konzerthausorchesters am 5. September die Saison eröffnete, wandte er sich mit einer kurzen Rede zur Situation der Flüchtlinge in seiner ungarischen Heimat an sein Publikum und begrüßte ganz besonders "unsere Gäste aus Syrien, die heute das erste Mal im Konzerthaus mit uns Musik hören".

Iván Fischer führt in Bonn auch eigene Werke auf.

Foto: Borggreve

Darauf wandte er sich mit einem Appell an "deutsche, ungarische und europäische Verantwortliche", die Flüchtlinge aus Ungarn "sofort" weiterreisen zu lassen, "damit sie gehen können, wohin sie möchten, und sich registrieren lassen, wo sie möchten".

Der 1951 geborene Fischer ist ein überzeugter Europäer. "Die veralteten Regeln sind nicht mehr wichtig, die in dieser Masse sowieso nicht mehr funktionieren", sagte er in Berlin in Anspielung auf das Dubliner Übereinkommen zum Asylverfahren. "Das Problem wird sich lösen, weil in Europa genug tolerante Menschen leben, die die Flüchtlinge warmherzig, großzügig, helfend und mit offenen Armen aufnehmen werden."

Ein paar Tage sind seither vergangen, als er im Vorfeld seines dreitägigen Beethovenfest-Gastspiels mit dem Budapest Festival Orchestra im Gespräch mit dem General-Anzeiger seine Haltung erläutert. In die alltägliche Politik müssten Künstler sich nicht unbedingt einmischen, findet er: "Aber wenn besondere Dinge passieren, denke ich schon, dass Künstler nicht im Elfenbeinturm leben sollten. Und was jetzt in Ungarn passiert, finde ich hochwichtig, gefährlich, und man muss offen darüber reden. Vielleicht hören die Leute zu, wenn wir Künstler unsere Meinung sagen."

Fischer ist nicht der Mann wohlfeiler Sonntagsreden. Er lebt den Humanismus, den er predigt. Das hat sehr viel mit seiner jüdischen Herkunft zu tun, mit der er sich sehr bewusst auseinandersetzt. In einer Zeit, wo in Ungarn antisemitische Strömungen so stark werden, dass Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel schon im Juni 2012 den Verdienstorden der Republik Ungarn zurückgab und der ungarische Pianist András Schiff aus Protest nicht mehr in seiner Heimat auftritt, macht sich Fischer auf, verlassene Synagogen in der Budapester Region mit Musik zu bespielen. Mit dabei sind Musiker des Budapest Festival Orchestra.

Es ist schon eine gewisse Gratwanderung, auf die sich Fischer im Ungarn des rechtsgerichteten Premierministers Viktor Orbán einlässt. Denn immerhin wird das vor 32 Jahren gemeinsam von ihm und von Zoltán Kocsis gegründete Orchester mit staatlichen Mitteln unterstützt. "Ich fühle mich natürlich verantwortlich für unser Orchester und für unser Publikum, für das die Musik ganz wichtig ist", sagt Fischer: "Aber ich werde nie daran denken, aus Vorsicht zu schweigen. Dass ich frei meine Meinung sagen kann, ist wichtiger als alles andere." Eine Haltung, die nach Fischers Beobachtung im Orchester, das zu den zehn besten weltweit zählt, auf Konsens stößt.

Fischer, der in Bonn nicht nur Werke von Gustav Mahler, Franz Liszt, Ernst von Dohnányi und Johannes Brahms dirigieren wird, sondern am dritten Abend des Gastspiels auch eigene Werke zur Aufführung bringt, begibt sich auch als Komponist auf Spurensuche. Ein Werk wurde vom Grabstein seines in den 20er Jahren verstorbenen jüdischen Großonkels inspiriert, auf dem einige Verse aus Goethes Gedicht "Symbolum" eingemeißelt sind. "Eine Deutsch-Jiddische Kantate" ist der Titel der Komposition, die Goethes Text mit Worten des Dichters Abraham Sutzkever verbindet, der 1942 das Gedicht "Mayn Mame" für seine von den Nazis getötete Mutter schrieb. Es ist ein Stück über die komplizierte Verbindung der jiddischen Kultur der Osteuropäer und der deutschen Kultur. "In meiner Familie waren alle verliebt in die deutsche Kultur, in Goethe und Beethoven. Und sie haben diese furchtbare Erfahrung im Zweiten Weltkrieg gemacht, als die Deutschen kamen und Mitglieder der Familie töteten. Mich hat immer stark beeindruckt, dass trotz allem die Bewunderung für die deutsche Kultur absolut geblieben ist." Den Gesangspart übernimmt übrigens Fischers Tochter Nora.

Musikalisch sieht sich Fischer weniger in der Tradition der Avantgarde. Ihm steht Mahler näher, dessen Collagetechnik er bewundert, aber vor allem auch Kurt Weill. Und ein bisschen so wie dessen Werke sollen auch seine Kompositionen wirken: Nicht politisch im Sinne eines Kommentars zur aktuellen Lage, er versteht sie eher als "Resonanzen mit der gegenwärtigen Gesellschaft im Sinne von Brecht".

Iván Fischer und das Budapest Festival Orchestra gastieren Freitag, 18.9. und Samstag, 19.9., in der Beethovenhalle. Am Sonntag, 20. 9., dirigiert und spielt Fischer im Studio der Beethovenhalle eigene Werke. Karten in den Bonnticket-Shops der GA-Zweigstellen.