Radikaler Roman über Asyl: "Erschlagt die Armen!" von Shumona Sinha Im Räderwerk der Lügenfabrik

Die Leute kommen scharenweise, "mit Träumen traurig wie Lumpen". Die junge Inderin, die in der Asylbehörde einer Pariser Vorstadt die Geschichten der verzweifelten Glückssucher übersetzt, hat irgendwann genug. "Ich wollte nicht mehr in die von Klagen triefenden, von Drohungen und Beschimpfungen überschäumenden Gesichter schauen."

 Autorin Shumona Sinha.

Autorin Shumona Sinha.

Foto: Normand

Aus Liebe zur Sprache war sie nach Frankreich gekommen, nun findet sie sich in Untersuchungshaft wieder, weil sie in einem rappelvollen Metroabteil einem zudringlichen Migranten die volle Weinflasche auf den Kopf geschlagen hat. Wie das geschehen konnte, fragt sie in Verhören ein gewisser "Herr K.", während sie doch selbst ihre Tat kaum begreift.

Die namenlose Ich-Erzählerin hat offenbar einiges mit der 1973 in Kalkutta geborenen Autorin Shumona Sinha gemeinsam, die seit 2001 in Paris lebt und aufgrund ihres Romans "Erschlagt die Armen!" (2011 in Frankreich, erst jetzt bei uns erschienen) ihren Dolmetscherjob bei der Asylbehörde verlor. Dafür gewann sie mehrere Literaturpreise und stand etwa auf der Shortlist des renommierten "Prix Médicis".

Ein gewagtes, unbequemes Buch, das schon mit dem provokanten Baudelaire-Zitat des Titels aneckt. Fremdenhass kann man der "Heldin" kaum vorwerfen, die ja die gleiche Hautfarbe hat wie ihr Opfer. Und für die sich die Schönheitsverheißungen der europäischen Metropole eben auch nicht erfüllt haben. Sie weiß, dass die allermeisten der bettelarmen Möchtegern-Einwanderer aus Bangladesch chancenlos sind: "Weder das Elend noch die sich rächende Natur, die ihr Land zerstörte, konnten ihr Exil rechtfertigen." Und trotzdem hört sie jeden Tag "ihre Geschichten aus zerhackten, zerstückelten, hingespuckten, herausgeschleuderten Sätzen". Samt der Märchen von politischer Verfolgung, die allein Chance auf Asyl bietet.

Spätestens hier begreift man, wie berechtigt Sinhas Kafka-Anspielung (Herr K.) ist. Die ohnmächtige Schlägerin sieht sich als Rädchen eines absurden Systems, einer "Lügenfabrik", die nur Frustration und Wut erzeugt. Zwischen den Männern ihres alten Kontinents und den unerbittlichen Beamtinnen ihrer neuen Heimat fühlt sie sich zum Bindestrich geschrumpft. Ihr ist zwar klar, dass all die Antragsteller "ihr Verlangen nach dem weißen Horizont, dem europäischen Traum, zu teuer bezahlt haben". Und doch hält sie es irgendwann nicht mehr aus, von diesen erbärmlichen Machos geringgeschätzt zu werden. Diese Frau, für die irgendwann auch anonymer Sex als Trost versagt , fühlt sich innerlich von der Mühle der Befragungen zermahlen.

Shumona Sinha erzählt von einem unentrinnbaren Dilemma auf faszinierende Art: Sie beschwört gerade das Bleierne der Situation mit einer fast expressionistisch lodernden Sprache, die somit indirekt vom Verrat an ihrer eigenen Schönheit kündet. Und gerade dank des Muts zu radikaler, rückhaltloser Subjektivität enthüllt dieses Buch womöglich mehr an Wahrheiten als manche ausgewogene Reportage.

Dass ihr Roman hierzulande gerade jetzt so wirkt, als sei er für die aktuellen Flüchtlingskrise geschrieben, konnte die Autorin vor vier Jahren nicht ahnen. Doch sie hat schon damals die schwierigste aller Fragen gestellt: Wie kann man in einer globalisierten Welt mit all jenen umgehen, die nicht unmittelbar verfolgt sind, sondern sich "nur" eines besseren Lebens wegen auf den Weg machen? "Erschlagt die Armen!" bleibt jede Antwort schuldig - und auch darin von verstörender Ehrlichkeit.

Shumona Sinha: Erschlagt die Armen!" Roman, Edition Nautilus, 127 S., 18 Euro.

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