Musikfestival Instinkt für emotionale Tiefe

Colmar · Dem künstlerischen Wirken Svetlanovs widmete sich in diesem Jahr das Internationale Musikfestival im elsässischen Colmar. Dort ist der Anteil russischer Musik und Musiker beachtlich (auch Svetlanov gastierte hier in den 90er Jahren), seit der künstlerische Leiter Vladimir Spivakov das Festival 1989 neu ausrichtete.

Häufiger Gast in Colmar: Weltklasse-Pianist Evgeny Kissin.

Foto: Bernhard Fruhinsholz

Er war ein Titan der russischen Musikwelt - der 2002 im Alter von 73 Jahren verstorbene Dirigent Evgeny Svetlanov. Von 1965 bis 1999 stand er an der Spitze des sowjetischen, später russischen Staatsorchesters, leitete aber auch Ensembles im Westen. Er war ein Workoholic, was sich nicht zuletzt in dem gewaltigen Konvolut von rund 2000 Einspielungen vor allem von Werken der russischen Schule niedergeschlagen hat.

Dem künstlerischen Wirken Svetlanovs widmete sich in diesem Jahr das Internationale Musikfestival im elsässischen Colmar. Dort ist der Anteil russischer Musik und Musiker beachtlich (auch Svetlanov gastierte hier in den 90er Jahren), seit der künstlerische Leiter Vladimir Spivakov das Festival 1989 neu ausrichtete.

Die diesjährige Hommage ließ die Russenquote noch einmal ansteigen. Von Rachmaninow etwa hörte man zum Beispiel eine Sinfonie, ein Klavierkonzert, Lieder, die Chorsinfonie "Die Glocken", aber auch die Vespergesänge (mit dem ausgezeichneten, kraftvoll und elegant singenden Akademischen Chor Moskau in der Kapelle St. Pierre), daneben traf man auf Vieles von Tschaikowsky (das Violinkonzert D-Dur etwa mit Vadim Gluzman und dem Sinfonieorchester aus Toulouse), Prokofjew oder Strawinsky. Schostakowitsch war unter anderem mit seiner Neunten Sinfonie vertreten (packend die russische Nationalphilharmonie unter Vladimir Spivakov), aber auch Svetlanov selbst, zum Beispiel mit einem Streichquartett. Doch setzte die Programmdramaturgie auch Kontrapunkte.

Etwa Mahlers "Titan"-Sinfonie, ein Recital mit dem kubanischen Pianisten Jorge Luis Prats, oder das klug komponierte Programm, das die Harfenistin Isabelle Moretti und der Cellist Henri Demarquette im "Koifhus" präsentierten. Schwerblütiges Melos (Glasunow, Tschaikowsky) traf hier auf französische Raffinesse (Debussy, Dutilleux).

Rachmaninov kontra Gershwin (auch den schätzte Svetlanov) dann am vorletzten Abend. Denis Matsuev spielte die Paganini-Variationen blitzsauber und entwaffnend virtuos, ebenso die "Rhapsody in Blue". In mancher Solopassage drückte er allerdings derart aufs Tempo, dass die Töne zu einem breiten Strich zusammenschnurrten.

Was ihm ein bisschen fehlte, ein Sinn fürs Abgründige und Geheimnisvolle, besitzt der Mann, der Matsuev beim Spiel in der Kirche St. Mathieu zuhörte - Evgeny Kissin, wie fast immer in Begleitung seiner Mutter. Er spielte am folgenden Abend ein Programm mit Schubert und Skrjabin (Etüden und die zweite Sonate), das zu den Höhepunkten des Festivals gerechnet werden muss.

Den ersten Satz der "Gastein"-Sonate, der ob seiner vielen Figurationen leicht ins Äußerliche abgleiten kann, verwandelte Kissin in eine Welt aus Klängen, Farben und Energieflüssen, die ebenso bezaubernd wie beunruhigend wirkte.

Kissin offenbart sich wieder einmal als ein Instinktspieler, der sich nichts zurechtlegt, sondern die Musik neu erschafft. Großartig sein organisches Spiel, ebenso großartig sein Gespür für epische Weite, was vor allem den zweiten Satz zu einem fesselnden Erlebnis machte.