Schauspiel in Köln „Judith Shakespeare – Rape & Revenge" im Depot 2

Köln · Was wäre, wenn – Shakespaere eine Schwester mit ähnlichem Talent gehabt hätte? „Judith Shakespeare – Rape&Revenge“ macht daraus im Depot 2 des Kölner Schauspiels ein spannendes Stück.

 Fiktive Schwester: Rebecca Lindauer als Judith Shakespeare.

Fiktive Schwester: Rebecca Lindauer als Judith Shakespeare.

Foto: General-Anzeiger Bonn GmbH

Was wäre, wenn. Auf dieser Arbeitshypothese beruht Paula Thieleckes Stück „Judith Shakespeare – Rape & Revenge“; es geht, der Titel sagt es, um Vergewaltigung und Rache. Was wäre, wenn der große William Shakespeare eine Schwester hätte, gesegnet mit dem gleichen schriftstellerischen Talent, die es zur Bühne drängt. Thielecke nimmt ein Motiv ihrer Kollegin Virgina Woolf (1882-1941) aus deren Essay „Ein Zimmer für sich allein“ auf. Woolf erfand darin die fiktive Judith Shakespeare: eine Frau des elisabethanischen Zeitalters ohne Zugang zu Bildung und zum Theater. Auf der Bühne durften Frauen damals im wörtlichen wie im übertragenen Sinn keine Rolle spielen. „Es ist undenkbar, dass irgendeine Frau zu Shakespeares Zeit Shakespeares Genie hätte besitzen können. Denn ein Genie wie das Shakespeares wird nicht im hart arbeitenden, ungebildeten und hörigen Volk geboren“, schrieb Woolf. Ihre Judith Shakespeare sieht in ihrem Dilemma nur einen Ausweg: Suizid.

Im Depot 2 des Kölner Schauspiels zeigt die zierliche Schauspielerin Rebecca Lindauer, welche nicht nur kreative Kraft in ihrer Judith steckt. Dennis Noldens Inszenierung beginnt mit einem Song von Billie Eilish: der Selbstbehauptungshymne „You Should See Me In A Crown“. Judith – in Jeans, mit Brille und Tattoos sowie „Vulva-Letten“ an den Füßen - beansprucht eine Theaterkrone für sich. Leider ist ihr Erfolgskonto bisher ziemlich leer. Lucie Hedderichs abstrakte Bühne besteht aus Bruchstücken einer Theaterdekorationsmauer, gegen die Judith anläuft: Sinnbild für eine immer noch patriarchal geprägte Kulturszene.

Gemeinsame Nacht mit erzwungenem Sex

Den Zugang zum Intendanten (Jörg Ratjen) ertrickst sie sich, indem sie die Handynummer ihres Bruders (Benjamin Höppner) an den Pförtner, Röschen (Justus Maier), weiterreicht. Das führt zu einem Flirt zwischen Meisterdramatiker und Bühnenangestelltem, der in einer gemeinsamen Nacht endet: mit viel Alkohol und von Shakespeare erzwungenem Sex.

Stück und Inszenierung bewegen sich auf mehreren Ebenen. Thielecke stellt dem Theater unterhaltsames Material für selbstparodistische Effekte zur Verfügung. Der Schauspieldirektor bedient das Klischee vom aufgeblasenen und selbstverliebten Sprücheklopfer: Gib dem Affen Zucker; weniger Essay, weniger Diskurs; Mythos geht immer. Judith kontert das mit dem Vorschlag eines Stücktitels: „Perlen vor die Säue“. Gleichzeitig wird das Thema Vergewaltigung, das der Intendant der jungen Autorin aufnötigt, mit angemessenem Ernst verhandelt. Man kann über Höppners alphatierhaft aufmarschierenden William lachen, seine Diskussion mit der Schwester über Gewalt gegen Frauen (oder Männer) und das Bild vom Opfer bannt durch ihre Vehemenz und Dringlichkeit. Judith, die eigentlich über Natur („Bäume“), Artensterben und den Borkenkäfer schreiben wollte, greift in ihrem entstehenden Stück auf Frauenfiguren wie Lucrezia zurück, deren Schicksal Shakespeare 1594 in seinem epischen Versdrama „The Rape of Lucrece“ („Die Schändung der Lucrezia“) behandelt hatte. Immer wieder dringen Frauenstimmen – etwa von Lucrezia, Leda, Lavinia und Goethes Gretchen – aus dem Lautsprecher.

Ein gewitztes Dauerenergiebündel

Regisseur und Ensemble gewährleisten, dass sich das Publikum nicht in der szenischen Komplexität verliert. Lindauer verkörpert Judith als widerständiges und gewitztes Dauerenergiebündel, das erst in einer idyllischen Liebesszene mit Röschen zur Ruhe (und zu sich selbst) kommt. Maier als Röschen verbindet sexuell fluide Koketterie mit Verletzlichkeit. Ratjen versteckt unter großspuriger Grandezza ein Herz fürs wahre Bühnendasein. Höppner schließlich, der im Parkett sitzt, beglaubigt, dass auch ein Genie dazulernen kann. Er bekennt sich als Vergewaltiger und cancelt sich als Autor. Das bedeutet wahrscheinlich: Schluss mit Hamlet, Othello und Co. auf den Bühnen. Wie gesagt, bei diesem Stück handelt es sich um eine Theaterfantasie. Wir brauchen den Alten noch. William (nicht nur Judith Shakespeare) hat uns noch viel zu sagen.

Rund 75 Minuten ohne Pause. Die nächsten Aufführungen: 19. April, 9. und 29. Mai. Karten gibt es bei Bonnticket.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort