Kleine Kratzer und ein nackter Hermelin

Gregor Schneider konfrontiert unter dem Titel "Totalschaden" kaputte Kunst mit maroden Räumen im Bonner Kunstverein - Das Peter-Mertes-Stipendium feiert Jubiläum, präsentiert Gerda Scheepers und Roland Gätzschmann

  Totalschaden im Atelier:  Jim Lambies Collage "Blue Eyes" (2001) wurde laut Protokoll "aus Versehen zerschnitten."

Totalschaden im Atelier: Jim Lambies Collage "Blue Eyes" (2001) wurde laut Protokoll "aus Versehen zerschnitten."

Foto: Fischer

Bonn. Was denn Kunst sei, lässt sich nicht immer zweifelsfrei klären. Noch schwieriger gestaltet sich die Diagnose, wie viel von der Aura einmal anerkannter Kunst übrig bleibt, wenn sie zum Beispiel von der Wand fällt, unplanmäßig vom Schimmelpilz attackiert oder vom Gabelstapler überrollt wird.

Wie überall woanders gibt es auch unter den Kunstschaffenden solche, die souverän mit Schäden umgehen und andere, die beim kleinsten Kratzer herumzicken. Wann bei der Kunst der Totalschaden eingetreten ist, ist also Ansichtssache.

Anders verhält es sich beispielsweise mit den Räumen des Kunstvereins: Das Loch in der Mauer bleibt ein Loch, die marode Trennwand ist durch nichts zu adeln, das ramponierte, funzelig beleuchtete Entree ist nicht Bohème, sondern schäbig.

In diesem sanierungsbedürftigen Milieu hat Gregor Schneider jetzt mit ironischem Augenzwinkern und gezielter Provokation seine Ausstellung "Totalschaden" arrangiert, eine Schau voller Versicherungsfälle - und mit einem immensen Spektrum.

Natürlich schmunzelt man über die Spuren, die ein im Streit geworfener Apfel auf einem Bild von Michael Staab hinterließ oder über den bizarren, kahl gewordenen ausgestopften Hermelin, Teil einer Installation von Mark Dion, der bei einer Ausstellung von Motten befallen wurde.

Es gibt auch dramatische Zerstörungen. So schickte das Rheinische Landesmuseum ein Relief der klugen und törichten Jungfrauen (16. Jahrhundert) aus dem Bonner Münster zu Schneiders Schau - ein Bombentreffer hatte das Werk im Zweiten Weltkrieg demoliert.

Eine Mörsergranate zog wiederum ein Bild von Shamsudin Achmadow in Mitleidenschaft. An Thomas Ruffs Foto "The Nude" - zu sehen ist ein weiblicher Unterleib - hat sich offensichtlich ein Perverser mit dem Messer zu schaffen gemacht.

Trauer kommt auch angesichts eines weitgehend verkohlten Gemäldes des begnadeten Malers Eugène Leroy (1910-2000) auf oder bei einem zerstörten Videoband von Marcel Odenbach, an dessen Inhalt er selbst sich nicht mehr erinnert. Jedes Werk erzählt seine Geschichte - bei Schneiders "Totalschaden" oft eine tragische.

Gregor Schneider, Deutschlands preisgekrönter Vertreter auf der Biennale in Venedig (2001), spielt im Kunstverein eine Doppelrolle: einmal als Künstler-Kurator von "Totalschaden", zum zweiten als einer der vielen heute prominenten Kollegen, die in jungen Jahren im Rahmen des Peter-Mertes-Stipendiums "entdeckt" wurden.

Jörg Sasse und Martin Honert, Pia Stadtbäumer und Corinne Wasmuth, Carsten Höller und Johannes Wohnseifer, Sonja Alhäuser und Frances Scholz - das sind nur einige Figuren aus der künstlerischen Bundesliga.

Sie alle haben in den letzten 20 Jahren das vom Bonner Kunstverein organisierte sowie von Michael und Renate Willkomm (Peter Mertes Weinkellerei, Bernkastel-Kues) gestiftete Nachwuchsstipendium bekommen.

Ob die jetzt präsentierten Stipendiaten von 2005 den Weg an die Spitze schaffen, wird sich weisen. Am Start ist die 1979 in Südafrika geborene Gerda Scheepers, ehemalige Studentin von Rosemarie Trockel an der Düsseldorfer Kunstakademie.

Mit Aquarellen und fragilen Papierreliefs, die auf wackeligen Regalen stehen, durchstreift sie den "Garden of the combed Rocks", den Garten der gekämmten Felsen. Mithin ein ziemlich surreales Terrain mit reichlich Anspielungen an die Mode früherer Zeiten.

In Scheepers stilsicher mit Gardinen garniertem Interieur gibt es wahre und lügende Linien, befinden sich Ornamentik, Gegenständlichkeit und autonome Gestalt im Fluss.

Die Gratwanderung zwischen Perfektion und dem Unvollkommenen spielt in den Arbeiten des 1979 in Augsburg geborenen Roland Gätzschmann, Student bei Rosemarie Trockel und Robert Kiecol, eine Rolle.

So leidet die Akkuratesse eines Tableaus aus 190 Waben-Wachstafeln darunter, dass die aufgebrachten natürlichen Pigmente unregelmäßig erscheinen. Die Trägheit sowohl des Bildschirmes als auch des menschlichen Auges verhindern bei einer anderen Arbeit, dass die animierte Computergrafik exakt wahrgenommen werden kann.

Das kalkulierte Scheitern wird schließlich offenkundig bei einem mittels Computer errechneten großen Polygon aus unregelmäßigen Fünfecken - beim Bauen des Modells kapitulierte Gätzschmann vor der letzten Fläche.

Formale Freiheit auf der einen Seite und ein Werkbegriff auf der anderen Seite, der den Auflösungstendenzen der letzten Jahre entgegenwirke: beides attestierte die Peter-Mertes-Jury den jungen Künstlern.

Bonner Kunstverein, Hochstadenring 22; bis 23. April. Di-So 11-17, Do 11-19, Sa 11-13 Uhr. Künstlergespräch am 14. März, 19 Uhr.

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