Erzählerisches Meisterwerk im Bonner Schauspielhaus Kleists “Marquise von O.“ ist ein gelungenes Experiment

Bonn · Für alle Verteidiger der Werktreue, hier wird sie Ereignis: Die Marquise von O.“ im Schauspielhaus.

 Bewegte Frau: Svenja Wasser als Kleists Marquise von O.

Bewegte Frau: Svenja Wasser als Kleists Marquise von O.

Foto: Thilo Beu/THILO BEU

Heinrich von Kleists berühmte Erzählung „Die Marquise von O.“ führt die Sprache an ihre eigenen Grenzen. Das Entscheidende kann nicht ausgesprochen werden. Kleist bedient sich fast durchgängig der indirekten Rede, berichtet also wie ein unbeteiligter Chronist vom Gesagten.

Die die Handlung auslösende „unerhörte Begebenheit“, klassisches Merkmal der literarischen Gattung Novelle, bleibt in ihrer Offensichtlichkeit verschwiegen. Das ist mehr als ein Kunstgriff zur Steigerung der Krimi-Spannung; im Nicht-Reden und Nicht-Verstehen artikuliert sich die Fassungslosigkeit angesichts einer zerbrechenden Weltordnung.

 Unterm Baum: Svenja Wasser und Benjamin Berger als Graf F.

Unterm Baum: Svenja Wasser und Benjamin Berger als Graf F.

Foto: Thilo Beu/THILO BEU

Es wird also über pausenlose knapp zwei Stunden beharrlich geschwiegen in der Inszenierung von Martin Nimz, die im Schauspielhaus ihre Premiere feierte. Aber zwei Erzähler präsentieren (auswendig!) Kleists Text mit all seinen komplizierten hypotaktischen Satzkonstruktionen, seiner oft atemlosen Beschleunigung und seinem beobachtenden Innehalten.

Annina Euling und Sören Wunderlich machen das fabelhaft – getragen von der sensiblen Musik von Matija Strnisa. Nicht als Live-Hörspiel: Man muss ihnen zuschauen, wie sie die Textstrudel und syntaktischen Klippen schauspielerisch gestalten, das merkwürdige Geschehen wie aus einer fernen Gegenwart betrachten und die Bruchstellen im Verhalten der Akteure aufdecken. Für alle Verteidiger der Werktreue: Hier wird sie Ereignis.

Bevor die beiden Erzähler zu ihren Mikros greifen, erscheinen sie wie heutige Schüler oder Studierende, die nicht ganz freiwillig ein altes Werk untersuchen sollen und erst mal den Begriff ‚Dichotomie“ per Smartphone bei Google nachschlagen. Die Auslassungspünktchen („In M…, einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, ließ die verwitwete Marquise von O… etc.) markieren sie durch Fingerschnippen.

Das vordergründig Skandalöse in Kleists 1808 erstmals erschienener Erzählung erscheint heutzutage obsolet oder angesichts alltäglicher Kriegsgräuel kaum noch der Rede wert.

Eine junge Frau wird bei der feindlichen Einnahme ihres elterlichen Hauses ohnmächtig, von einem Offizier vergewaltigt und prompt schwanger. Darum geht es indes nur an der Oberfläche der Geschichte.

Darunter schwelt die Angst vor der Wahrheit. Der wie ein Schutzengel erschienene Retter ist der Schuldige. Alle Gefühle geraten in Widerspruch zur Wirklichkeit, in der Gut und Böse nicht mehr zu unterscheiden sind. Auf der Bühne von Sebastian Hannak wirft ein riesiger, beinahe kahler Baum seinen Schatten über ein Rasenstück mit Spielzeugidylle und an die leuchtend blauen Wände.

Die wortlos handelnden Figuren (als bürgerliche Familie gediegen zeitlos kostümiert von Jutta Kreischer) illustrieren nicht den gesprochenen Text, sondern dessen Widersprüche. Svenja Wasser verkörpert ungemein differenziert die junge Witwe mit ihren zwei Puppenkindern, hin- und hergerissen zwischen mütterlicher Fürsorge, unerklärlicher Angst vor ihrem vermeintlichen Retter und Selbstbehauptung gegen die strenge patriarchalische Moral.

Bis sie schließlich Zuflucht in der Natur findet, per Zeitungsannonce den Vater ihres noch ungeborenen Kindes sucht, ihren Garten tapfer einzäunt und von dessen Gittern (neben dem Bild der jungfräulichen Muttergottes prangt böse ein Schild „Nutte“) fast erschlagen wird.

Benjamin Berger gibt den Grafen F., der die bewusstlose Marquise kurz über eine Astgabel geworfen und missbraucht hat. Ein paar marodierende Soldaten (mit Handykameras bewaffnete Statisten) werden standrechtlich erschossen.

Als blutiger Christus mit Dornenkrone erscheint der Graf völlig verstört am Familientisch und versucht dann unermüdlich, sich von der Schande seiner Tat zu erlösen.

Klaus Zmorek als Obrist verteidigt wie erstarrt die bürgerlichen Konventionen; aus der sentimentalen Versöhnung mit seiner Tochter wird ein bizarr aggressiver Akt. Nina Tomczak zeigt als mütterliche Obristin weibliche Solidarität. Alois Reinhardt lümmelt als brüderlicher Forstmeister herum und betrachtet ziemlich ungerührt die fortschreitende Verwirrung.

Im Taumel der existenziellen Sprachlosigkeit werden viele Möbel umgeworfen, zahlreiche Zigaretten geraucht, Pistolen geladen, Regen- und Nebelmaschine sowie die theaterüblichen Livekameras und Monitore eingesetzt und bis zum glücklichen Ende ein paar weiße und schwarze Federn gerupft.

Dass der Graf mit Sanftmut und viel Geld das Geschehene wieder gutmacht, löst zumindest den dramatischen Konflikt. Die Erzähler können zufrieden die Bühne verlassen, nachdem ihnen das Publikum hochkonzentriert durch alle Abgründe gefolgt ist. Zwischen Begeisterung und Irritation schwankender Premierenbeifall für ein insgesamt gelungenes Experiment.

Die nächsten Vorstellungen: 15., 21. und 28. November sowie 1. Dezember. Karten gibt es in allen Bonnticket-Vorverkaufsstellen.

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