Leben ohne Gebrauchsanweisungen im Euro Theater Central

Jan Steinbach inszeniert "Der Fremde". Ein sinnliches, höchst spannendes Essay über das Leben und zärtliche Gleichgültigkeit.

Leben ohne Gebrauchsanweisungen im Euro Theater Central
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Bonn. Meursault habe niemals vorsätzlich gelebt und folglich auch nicht im juristischen Sinn vorsätzlich getötet, schreibt Hans Mayer in seinem Essay über "Literarische Aspekte der Entfremdung".

Was Meursault erzählt in dem 1942 erschienenen Roman "Der Fremde" des späteren Literaturnobelpreisträgers Albert Camus, ist eine Folge von Lebensmomenten, denen keine Entscheidungen vorausgehen.

Es gibt keinen Kausalzusammenhang zwischen dem Telegramm vom Tod der Mutter, der Liebesgeschichte mit Maria, der Einladung von Raymond, dem Messer des Arabers und den tödlichen Schüssen in der gleißenden Sonne am Strand von Algier.

Was reiner Zufall war im nüchternen Bericht von den Tagen vor dem Mord, wird erst durch die Interpretation vor Gericht zu einer Verkettung von Indizien. Meursault verweigert sich den untergeschobenen Motiven und dem Sinn, den die Gesellschaft ihm aufzwingen will. Seine als bedeutungslos erlebte Gegenwart wird absurd durch die nachträglichen fremden Deutungen.

Die prinzipiell undramatische Geschichte des "Fremden", der kurz vor dem Schafott glücklich die "zärtliche Gleichgültigkeit der Welt" empfindet und sich viele Zuschauer bei seiner Hinrichtung wünscht, hat der junge Regisseur Jan Steinbach im Euro Theater Central in der Theaterfassung von Werner Düggelin und Ralf Fiedler inszeniert.

Es gibt zwei Meursault-Figuren auf seiner mit Tischen, Stühlen und bunten Einkaufstüten gefüllten Bühne. Aus den Tüten kommen überraschend witzige Sprach- und Musikfetzen von der Deutungshoheit behauptenden Literaturkritik bis zum banalen Schlager: das postmoderne Rauschen der Konsumgesellschaft, auf deren hoffnungslose Beliebigkeit Camus' Rebellion gegen die Fesseln der unzulänglichen Vernunft heruntergebrochen wird.

Steinbachs Inszenierung trägt ihre Aktualität jedoch nicht eitel vor sich her, sondern öffnet vorsichtig die Paradoxien des fast 60 Jahre alten Textes. A (der junge Frank Musekamp) und B sind der zwischen Determination und Kontingenz schwankende Fremde.

Es gibt kaum Dialoge zwischen den beiden Ich-Sagern, nur konkrete Identitätsverschiebungen. A ist mal ironisches Echo, mal Sinn fordernder Interpret der von B geschilderten amorphen Wirklichkeit, mal sein spielerischer Doppelgänger.

Richard Hucke spielt brillant die B-Seite von Meursault. Also die Hauptrolle in einem narrativen Diskurs, der bewusstes Spielen eigentlich nicht zulässt, weil das ein Verrat an der Sinnfreiheit des Geschehens wäre.

Hucke hält das fabelhaft in der Schwebe zwischen schauspielerischer Präzision und dem fremden Blick auf die formale Logik der "fehlenden Übereinstimmung" mit der Welt, die Sartre philosophisch als perfekte Utopie verortete.

Bei Camus steht sie grammatisch im Imperfekt, ist aber vollkommenes Präsens bis zum bitteren Ende im Futur. Hasserfüllte Schreie wünscht Meursault sich als Begleitung auf seinem letzten Gang. Es wäre der Beweis dafür, dass er nicht gänzlich weltfremd war, sondern auf seine Weise zugehörig. Nicht feindlich, sondern grundlos glücklich angesichts der "zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt".

Im Euro Theater wird daraus kein Thesenstück, sondern ein sinnlicher, höchst spannender Essay über das Leben ohne Gebrauchsanweisungen. Und eine neue Lektüre eines Klassikers der Weltliteratur, die viel über die universale Fremdheit von Menschen im Zeichen der Globalisierung zeigt.

Die nächsten Vorstellungen: Am Samstag, 5. März und Sonntag, 6 März. Ferner am 20. und 21. März sowie 23. und 24. April. Karten gibt es unter der Telefonnummer: (0228) 65 29 51.

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