Thomas Glavinic Lebenssehnsucht in der eisigen Todeszone

Finale am Mount Everest: Der Schriftsteller Thomas Glavinic legt den Roman "Das größere Wunder" vor

Wie ein langer Traum", sagt Thomas Glavinic, sei ihm die Arbeit an diesem Buch vorgekommen. Und so ähnlich erlebt auch der Leser "Das größere Wunder" an der Seite von Lukas, dieses Helden, bei dem die Gravitation des Lebens außer Kraft gesetzt scheint. Wie ein einsamer Reiter die Prärie durchstreift der junge Mann die ganze Welt in ihrer Schönheit und ihrem Schrecken und beobachtet sich dabei selbst mit Verwunderung, ja geradezu stoischer Distanz.

Lukas ist Glavinic-Fans kein Unbekannter, denn "Das größere Wunder" bildet den Abschluss einer Trilogie ("Die Arbeit der Nacht", "Leben der Wünsche"), ohne jedoch im herkömmlichen Sinn eine Fortsetzung oder Vorgeschichte zu sein. Es ist die Biografie eines Mannes, der um seine leere Mitte tost wie die Sturmböen des Orkans um sein lautloses Auge.

Immer radikaler werden seine Versuche, vorzustoßen in dieses Zentrum des inneren Friedens, bis Jonas sich wiederfindet in einer Mount-Everest-Expedition. Die Todeszone des Achttausenders, sie wird zum letzten Kick einer Lebenssehnsucht, die genauso gut Todessehnsucht sein könnte. Der Weg dorthin ist Rückblende: Lukas' Kindheit in schwierigsten Verhältnissen, seine wundersame Rettung durch den Mafiaboss Picco, eine freie Jugend ohne Grenzen. Ein Bruder, ein Freund, die erste Liebe, nur kleine Irritationen.

Doch dann kommt gleich dreifach der Tod, der Lukas zwar ein unermessliches Vermögen beschert, ihm aber alles nimmt, was er geliebt und was ihm Halt gegeben hat. Es wird der Beginn seiner Odyssee, die der Wiener Schriftsteller so beschreibt: "Szenen aus seinem Leben, in denen er feierte, in denen er Angst hatte, in denen er lachte, in denen er Schlimmes tat, in denen er allein war und wanderte und reiste, im Auto, im Bus, in Hunderten Zügen, in Tausenden Flugzeugen, auf der Suche nach dem einzigen, für das es wert war zu leben: der Liebe."

Diese Liebe heißt Marie, und er trifft sie tatsächlich, um sie trotzdem wieder zu verlieren und erneut zu suchen. Im eisigen Kosmos des Himalaya spitzt sich der Countdown zu, der Jonas weit über den Rand seiner körperlichen Kräfte wirft und in ein Zwischenreich katapultiert, in dem er mit den Toten spricht. Wie Wachsfiguren hängen sie am Abgrund seines delirierenden Alleingangs zum Gipfel und zurück - ein Bild, das ebenso grauenhaft wie poetisch ist und noch einmal am Ende des Romans die ganze schriftstellerische Meisterschaft Glavinics offenbart.

Ihn habe schon immer das Höhenbergsteigen fasziniert, gab der Autor zu, gefragt, warum ausgerechnet der Mount Everest den Rahmen für sein Buch bilde. Tatsächlich hat man selten einen so ungeschminkten Einblick in den Wahnsinn dieser Expeditionen bekommen - mit all ihrer Geschäftemacherei, dem Konkurrenzkampf, dem Schmutz und den lautlosen Toden am Wegesrand.

Doch die Ausnahmesituation an dieser eisigen Außenstelle der menschlichen Hybris bietet zudem die perfekte Folie für die Rückblicke, in denen Glavinic mit lässiger Heiterkeit die Jugend beschwört. Das erinnert im Ton ein bisschen an Don Winslows "Kings of Cool", in der Unangepasstheit des Helden an Salingers "Fänger im Roggen" - und ist vor allem 100 Prozent Glavinic in seiner besten Form.

Thomas Glavinic: Das größere Wunder, Roman, Hanser Verlag, 523 S., 22,90 Euro.

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