Ralf Rothmann las im Literaturhaus Bonn Magie der Genauigkeit

Er sei eigentlich faul, kein Freund aufwendiger Recherchen. Mit Geständnissen wie diesem überraschte der Schriftsteller Ralf Rothmann im Gespräch mit David Eisermann, Vorsitzender des Literaturhauses Bonn, am Donnerstagabend im Haus der Bildung. Ein Jahr lang habe er um die Schlüsselszene seines brillanten Romans "Im Frühling sterben" herumgeschrieben, erzählte der Autor.

 Ralf Rothmann im Haus der Bildung.

Ralf Rothmann im Haus der Bildung.

Foto: Horst Müller

Als er dann Opfer eines Raubüberfalls in Berlin wurde, in die Mündung einer Pistole blicken musste, hatte er am nächsten Tag die Kraft, in fünf Stunden diese kritische Stelle des Romans auszuformulieren: Wie der 17-jährige Walter in der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs gezwungen wird, seinen der Desertion angeklagten Freund Fiete als Mitglied des Erschießungspelotons hinzurichten. Eine eigentlich unbeschreibliche, erschütternde Szene. "Der Kern der Tragödie", wie Rothmann sagt.

Sein Vermieter habe Rothmann einst dieses fürchterliche Detail aus dem Krieg erzählt. Im Roman "Im Frühling sterben", bei dem es um eine literarische Hommage an den Vater geht, baute der Autor die Szene ein. Wie viel ist biografisch fundiert, wo beginnt die Fiktion? "Es ist die Geschichte meines Vaters, und sie ist es nicht", wand sich Rothmann und erzählte vom "Schweigen des Vaters", dass gleichwohl der "Krieg immer mit am Tisch saß".

Sein Vater, der nie ein Nazi gewesen sei, "ging in den Krieg und hat sich als Opfer gefühlt, kam zurück und war plötzlich Täter", erzählte Rothmann, "und dann tauchte er ab ins Schweigen". So gesehen ist "Im Frühling sterben" der Roman einer Generation, einer verlorenen Generation.

"Mir ging es nicht um die historische Wahrheit, sondern um magische Genauigkeit", sagte Rothmann über sein Buch, das das Schicksal zweier 17-Jähriger schildert, die im Frühjahr 1945 zur Waffen-SS zwangsverpflichtet werden. Diese "magische Genauigkeit" zog sich auch durch die Lesung, bei der auffiel, dass Rothmann nicht nur wunderbar und detailreich schreiben kann, sondern auch - trotz Erkältung - ein brillanter Vorleser und ein witziger, schlagfertiger und auskunftsfreudiger Interpret seiner Kunst ist.

Gelungene Premiere

Rothmann las zunächst die ersten Seiten seines Romans, ein liebevolles Porträt seines schweigsamen Vaters im Herbst seines Lebens, das von der harten Arbeit als Melker in Norddeutschland und Bergmann im Ruhrgebiet sowie vom Krieg geprägt war.

Dann las der Autor die Szene, in der sich Walter - im Wissen, dass er seinen Freund erschießen muss - von Fiete verabschiedet, eine Sequenz, die den ganzen Wahnsinn des Krieges, der Entmenschlichung in die zehn Minuten bannt, die den Freunden zugestanden werden.

Schließlich widmete sich Rothmann dem Epilog des Romans, ein stark autobiografisch gefärbtes, wiederum eindringlich formuliertes und nicht ohne Sprachwitz bizarre Momente einfangendes Nachdenken über die Spuren des Lebens, über Tod und Erinnerung.

Ein grandioser Abend und ein fantastischer Einstieg: Rothmanns Lesung war die gelungene Premiere am neuen Wirkungsort des Literaturhauses Bonn im eleganten Haus der Bildung. An der turnhallenartigen Lichtsituation im Saal und an der Tontechnik werde noch gearbeitet, hieß es.

Lesetipp: Ralf Rothmann: Im Frühling sterben. Suhrkamp, 234 S., 19,95 Euro.

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