Ihr Ur-Ur-Großvater Franz Liszt hat in Bonn das erste Beethovenfest initiiert, was ihn viel Geld und Nerven kostete. Anlass war der 75. Geburtstag Ludwig van Beethovens. Sie haben als Intendantin des Beethovenfests sozusagen das Erbe Liszts angetreten und feiern nun selbst Ihren 75. Geburtstag. Bedeuten Ihnen solche Zahlenspiele etwas?
Intendantin des Beethovenfestes in Bonn Nike Wagner wird 75 Jahre
Bonn · „Glücklich ist gar kein Ausdruck“: Nike Wagner, die Intendantin des Beethovenfestes in Bonn spricht im GA-Interview zu ihrem 75. Geburtstag über ihre Kindheit, den großen Namen und „neue Musik“.
Nike Wagner: Mit Zahlen stehe ich eigentlich auf Kriegsfuß; aber ebenso wie die Sterne haben sie ihre eigene Magie. Und es hat in der Tat einen großen Zauber, dass ich, wohin ich auch meinen Intendantinnenfuß setze, mit Franz Liszt in Berührung komme. Als ob er mich beschützen wollte. Letzteres konnte ich gebrauchen in Bonn.
Wenn Sie von Ihren beiden bekanntesten Ahnen Franz Liszt und Richard Wagner die besten Eigenschaften benennen müssten, welche wären das?
Wagner: Liszt? Selbstloser Einsatz für andere Komponisten und für seine Gegenwart. Auch im Sozialen. Wagner? Das Durchziehen exorbitanter Kunst-Ansprüche – an sich selbst und die Gesellschaft.
Ihre Verbundenheit mit Liszt haben Sie in Weimar mit dem Festival „Pèlerinage“ dokumentiert. Wie würden Sie die Kernbotschaft Ihrer Zeit dort formulieren?
Wagner: Das Festival hieß „Kunstfest Weimar“. Damit war Interdisziplinarität gegeben, und einzelne Schwerpunkte – wie z.B. die „Standortpflege“ Liszt – konnte ich selbst definieren. Das mündete dann in eine dramaturgisch geordnete Multiperspektivität der Künste. Geschichte und Gegenwart sollten ineinander gespiegelt werden; dazu kam die Dauerspannung zwischen dem ehemaligen KZ Buchenwald vor den Toren Weimars und der großen Humanitätsbotschaft des „klassischen“ Weimar. Diesem letzteren mussten aber ja auch frische Impulse verschafft werden…
Wagner wollte sich zum Vollender Beethovens machen
Wie Franz Liszt war auch Richard Wagner ein großer Verehrer Beethovens. In der neunten Sinfonie, die er auch selbst dirigierte, sah er den Höhepunkt und das Ende der Instrumentalmusik des Idealismus. Können Sie ihm darin folgen?
Wagner: Eigentlich nicht. Ich sehe darin ein Hinbiegen der Musikgeschichte, wenn nicht der Musikphilosophie, zugunsten eigener Zwecke – zugunsten der Rechtfertigung seines Musikdramas. Wagner wollte sich zum Erben und Vollender Beethovens machen; damit führte an ihm kein Weg vorbei. Kein vernünftiger Mensch kommt heute auf die Idee, dass Wagner dies nötig gehabt hätte.
Würden Sie dennoch sagen, dass Ihr Blick auf Beethoven durch die Wagner‘sche Tradition geprägt wurde? Und wenn ja, inwiefern?
Wagner: Nein, meine Affinität zu Beethoven hat mit Wagner-Traditionen nichts zu tun, auch wenn Beethovens düsteres Gesicht – auf einem Ölgemälde im heimischen Salon – mich bis heute verfolgt. Außerdem war Beethoven ja nicht „Oper“. Seine Klavierkonzerte haben mich zuerst begeistert, dann war’s der späte Beethoven, der mich in Bann gezogen hat.
Richard Wagner forderte einmal „Kinder, schafft Neues!“. Haben Sie sich das auch in Ihrer Vorliebe für die neue Musik zu eigen gemacht?
Wagner: Wagner war auch einmal „neue Musik“. Das habe ich früh gelernt. Und dann kam ich in gute Gesellschaft. Progressive Wagnerianer nahmen mich mit in die Zentren der Neuen Musik, Darmstadt und Donaueschingen. Das verlieh mir ein zwar außenseiterisches, aber zugleich auch elitäres Image und entwickelte sich fort zu einem grundsätzlichen Bekenntnis zur Kunst der Moderne und der Gegenwart.
Die historische Auseinandersetzung mit der Familie Wagner ist immer auch eine mit der deutschen Geschichte. Vor allem auch wegen der von Ihrer Großmutter Winifred betriebene Nähe zu Hitler und dem Nationalsozialismus. Wie schwierig war und ist es für Sie, damit umzugehen?
Wagner: Zunächst war es gar nicht schwierig. Dort war die alte Großmutter, hitlertreu und Nazi forever — hier der Vater, der zwar kein Widerständler war, der aber Bayreuth — ästhetisch und ideologisch — gerettet hatte aus dem braunen Sumpf. Später differenzierte sich dieses Bild. Die Verstrickungen wurden deutlicher sichtbar, aber die Gewissensnöte der Einzelnen auch. Nur wer niemals welche hatte, fiel meinem jugendlichen Schuldspruch zum Opfer. Gott bewahre uns davor, dass wir ähnlich diktatorischen Zeiten jemals standhalten müssen.
„Der Drache hatte sein Leben schon ausgehaucht“
Sie sind in der Villa Wahnfried aufgewachsen, die heute Museum ist, und das Festspielhaus war Ihr Spielplatz. Eine glückliche Kindheit?
Wagner: Glücklich ist gar kein Ausdruck. Zugleich aufgehoben und frei: immer in der Geschwister-Horde, zugleich in kleiner Autonomie – meist unbeaufsichtigt, aber doch von Erzieherinnen und Eltern umgeben, das Ganze zwischen grünem Wahnfriedgarten und Grünem Hügel. Mit der Bühnenkunst in steter Berührung. Wer sich langweilte, konnte die Familienloge mitten in einem endlosen dritten Akt „Siegfried“ verlassen; der Drache hatte sein Leben ohnehin schon ausgehaucht.
Ihre Mutter Gertrud war Tänzerin und Choreografin. Wie prägend war das für Sie?
Wagner: Ich vergesse meiner unbekümmerten Mutter nie, dass sie meine Schwestern und mich in ihre Bayreuther Choreographien integriert hat, gegen den Willen meines Vaters, der Angst vor dem Vorwurf der „Vetternwirtschaft“ hatte. Es waren unvergessliche Erlebnisse: ich sehe mich noch beim Tannhäuser-Bacchanale in der ersten Reihe tanzen, den Blick starr auf den Dirigenten gerichtet, bei den „Blumenmädchen“ war es Hans Knappertsbusch. Die Asymmetrie zwischen Musik und Bühne gehörte zum ästhetischen Credo meiner Mutter: bloß keine Verdopplung von Musik und Bewegung. Das war auch für den Regisseur Wieland Wagner verbindlich — und gehört zur Moderne.
Nach dem Tod Ihres Vaters Wieland Wagner 1966 wurden Sie, Ihre Mutter und Ihre Geschwister von ihrem Onkel Wolfgang ins Exil geschickt. Dennoch blieben Sie Bayreuth immer verbunden, haben sich sogar um die Leitung der Festspiele beworben. Wo stünden die Festspiele jetzt, wenn Sie und Gerard Mortier ans Ruder gekommen wären?
Wagner: Wenn, wenn wenn…. unsere Bewerbung ist zwölf Jahre her. Ich glaube aber nach wie vor, dass wir beide – Mortier als der europaweit beste Opernintendant und ich als „Intellektuelle“ mit dem richtigen Blutstropfen – eine Erneuerung des Wagner-Theaters zustande gebracht hätten, die mehr dem Geist als dem Buchstaben folgte. Regietheater ja, aber mit Substanz – und auch an eine neue musikalische Aufführungspraxis wäre zu denken gewesen. Zu schweigen von der Öffnung für bedeutende Werke nicht von Wagner, die sich mit der besonderen akustischen — und politischen! — Situation von Bayreuth vertrügen.
Freiheit macht mutig
Wenn Sie heute nach Bayreuth fahren, ist das noch immer ein Nachhausekommen für Sie?
Wagner: Die Heimat sitzt tief. Und wenn es nur die Bratwürste sind….
Sie haben lange als freischaffende Autorin gewirkt, hatten eine Gastprofessur in Oxford und als Dramaturgin bei einer Münchner Produktion von Wagners „Ring“-Tetralogie mitgewirkt, um nur einige Ihrer Aktivitäten zu nennen. Haben Sie es je als Nachteil empfunden, erst mit Ende fünfzig den Beruf der Kulturmanagerin und Festivalintendantin zu ergreifen?
Wagner: Überhaupt nicht, im Gegenteil. Freiheit festigt, Freiheit macht mutig. Bis zur Blauäugigkeit. Viele der Fallen, die sich mit einer „Position“ auftun, habe ich gar nicht bemerkt. Ich erinnere mich aber, wie überrascht und glücklich ich war, als zum ersten Mal regelmäßige Zuwendungen auf meinem Konto eintrafen…
Wegen der Corona-Krise mussten Sie die für das Beethovenjahr geplanten Beethovenfeste absagen. Ist da die Verlängerung Ihrer Intendanz um zehn Monate ein Trost?
Wahner: Naja, schon. Wir wollten nicht sang- und klanglos untergehen, zumal alles fertig war. Alles finanziert, alle Programmhefte gedruckt, (fast) alle Karten verkauft… Nun hoffen wir auf einen neuen Schwung, um dem corona-erschöpften Publikum von 2021 mehr als nur „Ersatz“ für 2020 zu bieten - um gemeinsam zu feiern, in altmodisch-gemeinschaftlich-analoger Weise.
Wie werden Sie Ihren Geburtstag feiern?
Wagner: Mit Tochter und Enkeln auf dem Land, in Mecklenburg-Vorpommern. Stiller geht es kaum: Schlechte Netzverbindung, Naturschutzgebiet, Reiher und Schwäne, einige Küsse und Glückwünsche. Also alles bestens…