40 Jahre Punk No Future war gestern

BONN · Im Frühjahr 1976 erfanden die Sex Pistols in London den Punk. Auch in Bonn war die Bewegung einst ziemlich angesagt.

Die Toten Hosen sind eine Punkband aus Düsseldorf. Punk? Der Hit „Tage wie diese“ aus dem Jahr 2012 klingt nach dem schieren Gegenteil. Ein liebliches Intro an der Gitarre, eher zarte Textzeilen von Sänger Campino, und der hymnische Refrain umarmt ein ganzes Fußballstadion. Kein Rotz und kein Radau, kein Aufruf zum Aufruhr. Richtig ist: Die Toten Hosen waren eine Punkband aus Düsseldorf. Und die Ärzte eine aus Berlin. Deren Album „auch“, ebenfalls von 2012, eröffnet mit dem vielsagenden Lied „Ist das noch Punkrock?“. Sänger Farin Urlaub textet das Thema auf den Punkt: „No Future, das war gestern, seitdem ist viel passiert.“

London im Frühjahr 1976. In der britischen Hauptstadt brodelt der Untergrund. Die Jugend ist gefrustet, erkennt keine Zukunftschancen. No Future. Auch die Musik geht den Kids auf den Keks. Pink Floyd, Yes, Genesis – bombastischer Rock auf allen Kanälen, Kommerz ohne Ende. Doch die Hippies sind nicht mehr hip. Eine Gegenbewegung entsteht, und sie sucht den knallharten Kontrast: die Haare kurz oder im Irokesenschnitt, durch die Lippe eine Sicherheitsnadel, die Grundhaltung rebellisch und eine angriffslustige Musik. Laut, unsortiert, undifferenziert: drei Akkorde für ein Halleluja.

Ein 20-jähriger Sänger aus London sät den Samen der Revolution: John Lydon nennt sich Johnny Rotten, seine Band sind die Sex Pistols. Mit ihrem explosiven und nihilistischen Garagenrock ziehen sie durch Clubs wie The Marquee oder Dingwalls. Dave Goodman, der Live-Mixer der Band, animiert die vier Rebellen zu Studiosessions. Dabei entstehen raue, frühe Fassungen ihrer späteren Hits: „Anarchy In The UK“ wurde zur ersten Single. Das Magazin Rolling Stone wählte das Stück im Rückblick auf Platz 53 der 500 besten Songs aller Zeiten.

Genau genommen beginnt die Geschichte der Sex Pistols schon 1971. Damals trafen der 15-jährige Schlagzeuger Paul Cook und der 16-jährige Gitarrist Steve Jones erstmals auf den späteren Sex-Pistols-Manager Malcolm McLaren. Dieser betrieb in Londons Stadtteil Chelsea einen schrägen Klamottenladen. Dort bewirbt sich im August 1975 John Lydon für die Position des Sex-Pistols-Frontmanns, indem er eine Kostprobe abliefert – zu Alice Coopers „School’s Out“. Prompt erhält er den Zuschlag. „Du siehst echt verrottet aus“, lautet die Legende um Rottens Namensbildung. Mit seiner Ästhetik der Hässlichkeit inklusive Sicherheitsnadeln in der Wange avanciert er schnell zur Ikone der Gegenkultur.

Die Songs der Sex Pistols sind Manifeste gegen Kommerz und Bürgertum, und man verzichtet ganz bewusst auf jede Form von Virtuosität. Aber auch Anarchie sollte zu vermarkten sein, dachte sich Bandmanager Malcolm McLaren. Der geschäftstüchtige Lebensgefährte der Modemacherin Vivienne Westwood half später an vorderster Front mit, die Punkbewegung entgegen ihrer ursprünglichen Ideale zu kommerzialisieren.

In Julian Temples Dokumentarfilm „The Great Rock ’n’ Roll Swindle“ erzählt er von der akribisch geplanten Geldvermehrung. Nichtsdestotrotz schätzten die Medien die Sex Pistols und ihr einziges Album „Never Mind The Bollocks“ von 1977 als künstlerisch wertvoll ein.

In den USA wurde die neue Bewegung unter anderem von den Ramones angeführt, die der Hosen-Sänger Andreas Frege alias Campino zu seinen Impulsgebern zählt. Die neue Welle schwappte überhaupt sehr früh auf den europäischen Kontinent. Nina Hagen begann ihre Karriere Ende der siebziger Jahre mit Punk, der Kölner Jürgen Zeltinger ebenfalls.

Und was nicht purer Punk war, wurde passend gemacht, etwa durch die Optik, den Habitus und vor allem durch eine stilistische Variante in der Musik: New Wave, eine Art Punk light, entwickelte sich fast zeitgleich – ob mit The Cure in England oder den Fehlfarben im Rheinland.

Die Bands der Stunde zogen durch deutsche Musikclubs. Und Bonn war eine Hochburg. Punks aus dem ganzen Land marschierten im Oktober 1981 durch die Estermannstraße, um in den Grau-Rheindorfer Rheinterrassen ein wildes Konzert der britisch Band Killing Joke zu erleben. The Ruts mischte den Friesdorfer Club Nam Nam auf. Die Bewegung machte vor keiner Bühne halt: In der Aula des EMA-Gymnasiums spielte Adam & The Ants, beim 1. Godesberger Rock-Meeting im Nicolaus-Cusanus-Gymnasium war auch die lokale Punkband Steampig vertreten. Bonner Bands wie Canal Terror und Molotow Soda spielten auf kleinsten Bühnen, die Kneipen Bla, Treibhaus und Namenlos waren Epizentren des Punk.

Selbst das Schauspiel Bonn machte Punk. Der Regisseur Bernd Schadewald inszenierte 1984 in den Kammerspielen das Punk-Stück „Klassen Feind“ von Nigel Williams – und vier Jahre später den beklemmenden Klassiker „Clockwork Orange“ von Anthony Burgess mit prominenter Besetzung. Die Toten Hosen wirkten als Gang auf der Bühne mit und schrieben die Musik zum Stück. Aus dem Material entstand das fünfte Studioalbum der Band: „Ein kleines bisschen Horrorschau“ mit dem Hit „Hier kommt Alex“. So viel dazu.

Sid Vicious ist der berühmteste Tote des Punk, der Bassist der Sex Pistols starb am 2. Februar 1979 an einer Überdosis. Sein Bandleader Johnny Rotten ist im Januar 60 Jahre alt geworden und immer noch als Musiker unterwegs. Mit der Post-Punk-Band PiL (Public Image Ltd) spielt er demnächst in Düsseldorf. Und die Düsseldorfer Fehlfarben gastieren am 24. Februar in der Bonner Harmonie.

Spurenelemente des Punk finden sich noch bei vielen heutigen Bands, etwa bei Green Day, Bring Me The Horizon oder A Day To Remember. Oder bei den Ärzten – und den Toten Hosen.

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