Antonia Baum legt den Roman „Siegfried“ vor Panorama einer Generation

Bonn · Antonia Baums blickt mit „Siegfried“ tief in die Strukturen einer Familie. Das ist fesselnd nicht nur deshalb, weil es glänzend geschrieben ist. Das Buch beschreibt akribisch den inneren Zustand einer Generation.

 Sie zeichnet ein präzises Panorama: Autorin Antonia Baum.

Sie zeichnet ein präzises Panorama: Autorin Antonia Baum.

Foto: Urban Zintel

Es soll wieder ein heißer Tag werden. Einer von der Sorte, über die die Schriftstellerin Antonia Baum schreibt: „Am Ende heißer Tage sahen die Leute immer aus wie geplatzte Tomaten, wegen der Farbe, aber auch weil sie so beschädigt wirken, so verletzt.“ Die junge Frau, die Ich-Erzählerin aus Baums Roman „Siegfried“, fühlt sich schon zu Beginn des Tages beschädigt und verletzt. Sie hat vom Tod ihres Stiefvaters, des besagten Siegfried, geträumt, wacht verstört auf, findet auf dem Handy keine entsprechende Mitteilung, ist trotzdem in Sorge.

Die To-do-Liste rattert vor ihrem geistigen Auge durch: „In fünfundvierzig Minuten würde ich den Tisch decken, Frühstück machen, die Tasche packen, die Waschmaschine füllen, meine Liste für den Tag schreiben und dann Johnny wecken, ihr beim Anziehen helfen, ihre Zöpfe flechten, später unbedingt Persil kaufen.“ Johnny, eigentlich Johanna, schläft da noch. Der Mann der jungen Frau, Alex, liegt auf der Couch. Seitdem sie, eine Autorin mit Schreibhemmung, ihm unlängst gestanden hat, mit ihrem Lektor Benjamin geschlafen zu haben, schweigt Alex.

Ein Ausweg heißt Psychiatrie

Die junge Frau, sie ist Mitte 30, ist felsenfest überzeugt: „Ich bin das Problem.“ Vor diesem Hintergrund fasst sie einen Beschluss: Sie will in die Psychiatrie fahren, sich in der Ambulanz vorstellen. „Jemand würde mir sagen, was mit mir los war, dieser Arzt würde mir helfen, die Dinge zu sortieren. Ich würde dort sitzen und für die Reihenfolge nicht zuständig sein. Es würde eine Diagnose geben…“

Baums glänzender Beziehungs- und Familienroman „Siegfried“ liefert keine Diagnose, aber er sortiert die Dinge, lapidar, unglaublich präzise mit einer wunderbar plastischen Sprache. Es ist nicht nur eine Art Familienaufstellung, die die dort wirkenden Kraftfelder, positive und negative, registriert und aufzeichnet. Es ist vor allem eine toll beobachtete Ansammlung von Porträts und Beziehungsmustern. Da ist der Übervater Siegfried, der elegante, belesene, erfolgreiche, kultivierte Mann, über den Baum im ersten Satz schreibt: „Siegfried ist mein Stiefvater, aber er war immer da, ich bin mit ihm aufgewachsen.“ Rein physisch war er kaum da, da immer unterwegs, aber die Aura dieses Gentlemans war da, die Persönlichkeit, die sie noch als Erwachsene fasziniert und fesselt.

Ein Mann voller unerfüllter Träume

Vielleicht hätte die junge Frau gerne einen jungen Siegfried zum Mann gehabt. Aber natürlich hat sie sich für das diametral entgegengesetzte Modell Alex entschieden. Ein hübscher Typ, lässig bis nachlässig, mittellos, ein Mann voller unerfüllter Träume vom Restaurant bis zur Filmkarriere. Ein Lebenskünstler mit hoher Halbwertszeit. Will sagen: Ein Mann, dessen freundliche Leichtigkeit und im Gegenzug dessen Sexappeal für die Partnerin rasant abnehmen, sobald er mit den Mühen der Ebene in der Familienarbeit konfrontiert wird. Die junge Frau finanziert und managt die Familie letztlich fast alleine oder mit Sigfrieds Hilfe, hält lange an Alex fest. Ihre Ängste, verlassen zu werden, dominieren. Siegfried hat sie oft verlassen, sie und ihre Mutter, der er chronisch untreu war.

Als die Eltern der jungen Frau zu einer längeren USA-Reise aufbrechen, lassen sie das kleine Mädchen bei Siegfrieds Mutter Hilde zurück, einer narzisstischen Persönlichkeit, die hart ist, den Drill liebt, die fordert, in dem Mädchen den Ehrgeiz weckt und Zwangsneurosen nährt.

Nur wenig ist etwas klischeehaft geraten

Mit Spannung liest man diese exakten Porträts, zu denen auch die etwas klischeehaft geratenen, ungemein bedrückenden, letztlich mit Ironie und Sarkasmus beschriebenen Lebensbilder von Alex‘ Eltern gehören, die aus einem DDR-Museum zu kommen scheinen und sich in ihrer Ost-Berliner Platte mit der Nach-Wende-Zeit nicht abfinden können.

„Meine schöne traurige Mutter“ kommt in den Schilderungen der jungen Frau etwas farblos weg, gewinnt Kontur, als sie nach der Rückkehr aus den USA eigene Akzente setzt. Johnny bleibt letztlich in diesem bunten, detailreichen Familienfoto seltsam unterbelichtet. Auch das ein Statement. Baums Roman liefert keine Diagnose, aber er reizt zu Spekulationen. Und er beschreibt akribisch den inneren Zustand einer Generation.

Antonia Baum: Siegfried. Roman, Claassen, 254 S., 24 Euro

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