Polly Stenhams "That Face - Szenen einer Familie" in der Werkstatt

Jens Kerbel inszeniert die Geschichte über den Zerfall einer Familie mit viel Herzblut

Polly Stenhams "That Face - Szenen einer Familie" in der Werkstatt
Foto: Thilo Beu

Bonn. Es steckt viel Herzblut in Polly Stenhams "That Face - Szenen einer Familie". Die englische Autorin war erst 19, als ihr Stück vor zwei Jahren am Londoner Royal Court uraufgeführt wurde. Es zeigt, dass nicht Stenham ihr Thema gefunden hatte - sondern das Thema sie.

"That Face" erzählt eine Familienzerfallsgeschichte. Nachdem sie von ihrem Mann verlassen wurde, klammert sich die dem Suff ergebene Martha (Tatjana Pasztor) an ihren Sohn Henry (Oliver Chomik). In den zerrütteten Verhältnissen, die Polly Stenham ausbreitet, spielen auch noch Tochter Mia (Maria Munkert) und Ex-Mann Hugh (Wolfgang Rüter) Hauptrollen: Einzelkämpfer auf dem Schlachtfeld Familie.

Viel Herzblut steckt auch in der Inszenierung von Jens Kerbel in der Werkstatt. Der Regisseur und seine Schauspieler haben wie die Autorin keine Hemmungen, die Traumata von Menschen abzubilden, die Wutanfälle und die Verletzungen, die sie sich zufügen.

Furios, erbarmungslos und drastisch geht "That Face" über die Bühne. Und doch gibt es immer wieder szenische Miniaturen von zarter Poesie, Sehnsucht-nach-Glück-Momente zwischen zwei Gläsern Bombay Sapphire. Der Gin ist gut in der Werkstatt.

Kerbel und Sigrid Trebing haben die Werkstatt wie einen Schlafsaal eingerichtet. Das passt, denn zuerst sehen wir Mia und ihrer Mitschülerin Izzy (Anastasia Gubareva) dabei zu, wie sie ein Mädchen (Chiara Kerstan) quälen. Das in englischen Internaten gepflegte Initiationsritual geht schief. Bereits hier wird eines der Leitmotive des Stückes etabliert: Der Mensch ist des Menschen Quälgeist.

Danach steht ein Bett im Mittelpunkt, in dem Mutter und Sohn ihre gegenseitige Abhängigkeit ausleben. Tatjana Pasztors Martha ist kein Psychotrick fremd. Mit verlaufener Wimperntusche unter den Augen spielt sie hyperventilierend die Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs. Dann sieht sie aus wie Alice Cooper an einem ganz schlechten Tag.

Sie lockt und schmeichelt, aber sie kann auch kalt und bissig sein: ein Muttertier mit scharfen Krallen. Henry hat fünf Jahre in dieser Welt durchgehalten. Oliver Chomik spielt Henry als jungen Mann, der immer wie neben sich steht. Er ist zu einem Rollenspiel vor der Zeit gezwungen, kämpft jetzt schon die Kämpfe von Erwachsenen.

Ausdruck seiner existenziellen Krise sind die Mutter-Kleider, die er trägt, die geschminkten Lippen. Das ist mehr als Schwermut und Schminke, Henry ist das Geschöpf seiner Mutter. Desillusioniert wagt er immer wieder die Flucht, doch eine Erkenntnis bricht ihm das Herz: "Das ist mein Leben. Sie ist mein Leben."

Maria Munkerts Mia hat sich unter aller Grausamkeit etwas Kindliches bewahrt. In den Szenen mit dem Vater, den Wolfgang Rüter jovial und emotional entrückt verkörpert, wird die Diskrepanz zwischen Mias großer Klappe und ihrer Empfindsamkeit besonders deutlich.

Anastasia Gubareva kommt als Izzy zwischen die familiären Frontlinien. Da geht selbst diese forsche, dauerprovokante Blondine schnell unter.

Es hat etwas Gruseliges, diesen Menschen bei der Selbstzerstörung zuzusehen. Jens Kerbel und seinem Ensemble gelingt es, knallige szenische Pointen, psychische und physische Entblößung im Dienste des Stückes zu gestalten. Nichts ist hier Selbstzweck und ganz wenig Manierismus.

Lars Figge hat dem Ganzen mit Musik und Projektionen einen zeitgemäßen Rahmen gegeben. Der Schluss jedoch ist ganz altmodisch. Mit dem volkstümlichen Chanson "Au clair de la lune" verabschiedet sich Martha aus ihrem bisherigen Leben: "Ma chandelle est morte, je n'ai plus de feu." Licht aus, Ende offen.

Die nächsten Aufführungen: 6., 13., 17., 20. und 23. Juni.

Karten in den GA-Zweigstellen

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