Fritz J. Raddatz Rezension: Die Tagebücher 2002-2012 des Feuilletonisten

Die Deutlichkeit ist die Höflichkeit des Kritikers, pflegte Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) zu sagen. Deutlich war er, manchmal überdeutlich, immer streitbar, bisweilen schroff und verletzend. Kurz: Reich-Ranicki wusste auszuteilen.

 Auf eine Zigarette mit FJR: Fritz J. Raddatz, aufgenommen im September 2010 in Hamburg.

Auf eine Zigarette mit FJR: Fritz J. Raddatz, aufgenommen im September 2010 in Hamburg.

Foto: dpa

Sein 1931 geborener Kollege (und lange Jahre maßgeblicher Konkurrent im Literaturbetrieb der Bundesrepublik) Fritz J. Raddatz ist auf diesem Feld auch ein Meister. Davon legten nicht zuletzt die 2010 erschienenen Tagebücher 1982-2001 Zeugnis ab.

Rudolf Augstein, Günter Grass, Rolf Hochhuth, Marcel Reich-Ranicki - sie alle bekamen ihr Fett ab. Die Großen Drei der Wochenzeitung "Die Zeit", Herausgeber Marion Dönhoff (1909-2002) und Helmut Schmidt sowie Verleger Gerd Bucerius (1906-1995), schmähte Raddatz mit Wonne.

Zum Beispiel am 31. Dezember 1986: "Eine Frau Dönhoff, die nie in meinem Leben ich je in einem Theater oder in einem Konzert sah, der spießige Millionär Bucerius in seinen Strickhemdchen, der sich anmaßt zu urteilen, weil er besitzt, oder der bramsig-eitle Helmut Schmidt. Nun ja."

Raddatz, der von 1977 bis 1985 als Feuilletonchef des Blattes Furore machte und internationale Bekanntheit erlangte, verlor seinen Posten, nachdem er ein falsches Goethe-Zitat in einen Kommentar eingebaut hatte. Der Schmerz nach dem erzwungenen Rücktritt saß tief, das erklärt sein Verhältnis zu Dönhoff & Co. bis heute. Helmut Schmidt, 95, ist er immer noch nicht gewogen. Dessen Rolle als Offizier, der "stolz die Uniform der Hitler-Armee getragen habe", betrachtet der 82-jährige Raddatz nach wie vor hochkritisch: Willkommen im Tagebuchband 2002-2012, in dem Raddatz auf beinahe 700 Seiten Notate aus elf Jahren versammelt.

Altersmilde ist er, wie gesagt, nicht geworden, aber Alter und Krankheit haben unauslöschbare Verzweiflungsspuren hinterlassen. Es wird die letzte Veröffentlichung dieser Art sein. Der Eintrag vom 31. Dezember 2012 endet mit den Abschiedsworten "Finis Tagebuch". Zentrales Thema des Buches ist die nicht ferne Begegnung mit dem Tod. Das Trennmesser klirrt: Finis Leben.

Der Autor stimmt mit dem ersten Tagebucheintrag schon ein Klagelied an: über den allmählichen physischen Untergang und die Vergesslichkeit des Kultur- und Medienbetriebs, in dem er keine Hauptrolle mehr ausfüllen darf. Raddatz liefert mit dem Buch ein schonungsloses Alterswerk ab, ein virtuoses Lamento über das Leben jenseits der 80. Der Autor, der champagnerhaft-geistreich, anekdotensatt und anregend wie kaum ein anderer erzählen kann, nimmt den Leser mit auf eine Reise in die tiefdunkle Nacht. Wen das nicht rührt, der hat keinen Puls mehr.

Und dennoch ist die Frage erlaubt: Muss man sich das antun? Raddatz selbst formuliert größtmögliche Skepsis gegen die Veröffentlichung der Tagebücher. Ein 700-Seiten-Buch sei entstanden, aber kein Werk im emphatischen Sinn; ein Konvolut privater Aufzeichnungen, aber keine Literatur.

Der Autor irrt, und das ist ein Glück für seine Leser. Die Einträge verdichten sich zu furios komponierter, stilistisch funkelnder - Literatur. So beweist Raddatz auch im Untergang noch Stilbewusstsein, die sprachliche Eleganz ist Ehrfurcht gebietend. Ebenso der unbarmherzige Blick aufs eigene Ich. "Lebensstillstand. Leer wie ein abgelassener Dorfteich, nur noch Modder und Entengrütze - unbewegt", notiert er im Juni 2008 im geliebten Kampen auf Sylt. Bitter rezensiert der offen bisexuelle Raddatz den eigenen Körper: "Ich habe kaum noch Haare, mein Arsch ist faltig, meine Haut entzündet - eine comme-il-faut gekleidete Vogelscheuche."

Viel Platz räumt der Autor seinem wachsenden Zeitgeist-Ekel und der zunehmenden Glücksimpotenz ein, den Wehleidigkeiten und Trübsinnigkeiten. Wir alle, intoniert er, versinken irgendwann im Beckett-Sand. Freundschaften wie die mit Günter Grass gehen in die Brüche, das empfindet der Tagebuchautor als Verlust. Dabei hatte er bereits am 12. Januar 1992 festgehalten: "Ich muß mich da SEHR revidieren bzw. einen profunden Fehler eingestehen: hatte ich doch ernsthaft über viele Jahre hinweg geglaubt, man könne mit Schriftstellern befreundet sein."

Was bleibt? Ein reiches, farbiges, schnelles, anstrengendes - nicht "schönes" - Leben, ein Werk und das "Scheppern und Rauschen der schwarzen Vogelschwingen, es ist im Ohr wie ein Todestinnitus. Und es saust herbei."

Fritz J. Raddatz: Tagebücher 2002-2012. Rowohlt Verlag, Reinbek, 718 S., 24,95 Euro.

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