Haus der Geschichte in Bonn "Schamlos?": Das Sexleben der Deutschen

BONN · Kardinal-Staatssekretär Pietro Parolin hat gerade in Rom unfreiwillig das Bonmot zu einer Ausstellung geliefert, die am Freitagabend im Bonner Haus der Geschichte eröffnet wurde.

Radio Vatikan zitiert seine Reaktion auf den Ausgang des irischen Referendums zur Homo-Ehe mit den Worten: "Ich glaube, man kann nicht nur von einer Niederlage der christlichen Prinzipien, sondern von einer Niederlage für die Menschheit sprechen." Hans Walter Hütter, Präsident der Stiftung Haus der Geschichte, freut sich geradezu über derlei Vorlagen, belegen sie doch die Brisanz und Aktualität seiner Ausstellung "Schamlos? Sexualmoral im Wandel".

"Es sieht so aus, als würden wir spontan reagieren, aber wir arbeiten seit Jahren an diesem Thema", sagte er über sein ambitioniertes Ausstellungsprojekt, das mit 900 Exponaten versucht, dieses ungemein komplexe und vielschichtige Kapitel deutsch-deutscher Gesellschafts- und Mentalitätsgeschichte zu fassen, das hochpolitisch und von einer Relevanz ist, der sich niemand entziehen kann. "Gott sieht alles", steht als drohendes Wort in Frakturschrift auf einem Kissen. Mahnung an Kinder und Eltern, Unkeusches und Unbotmäßiges zu unterlassen.

Unter der Regie von Kornelia Lobmeier ist ein fantastisches Sittenbild der Deutschen gelungen, das bis heute unser Leben prägt. Denn, so deutlich der Wandel von den mehr oder weniger sexuell verklemmten Wirtschaftswunderjahren zu unserer vermeintlich freien, alles erlaubenden Gegenwart auch wirken möge, so Lobmeier, so klar seien Anzeichen einer Überforderung des Einzelnen durch die Flut der Eindrücke und Möglichkeiten. Ein ernster Aspekt unter vielen in dieser Schau, die natürlich mit den Mitteln des Skandals und Voyeurismus spielt, mitunter sehr sexy daherkommt, aber mit einer Fülle von Fakten den Zustand einer Gesellschaft zwischen Moral und Bigotterie, Kontrolle und kleinen Fluchten, religiös motivierter Repression und der sexuellen Revolution der End-60er zeichnet.

Die Schau startet mit Rollenmustern der DDR, die die werktätige Mutter als Ideal sah, und der Bundesrepublik, die die Frau mit dem Worten des Familienministers Franz Josef Wuermeling so definierte: "Mutterberuf ist Hauptberuf." Die Frau habe, wusste Dr. Oetker in den 50er Jahren, zwei Lebensfragen: "Was soll ich anziehen?" und "Was soll ich kochen?" Kontaktanzeigen, die in der Ausstellung aushängen, zeigen, wie hartnäckig sich alte Rollenmuster halten.

Das repressive Sexualklima in der Bundesrepublik lässt sich am besten anhand der Rechtsprechung dokumentieren. 1966 konnte der Bundesgerichtshof urteilen: "Die Ehe fordert ... von der Frau die Gewährung des Beischlafs in Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen." 1969 endlich wurde das Verbot von John Clelands 1748 geschriebenem erotischen Roman "Die Memoiren der Fanny Hill" aufgehoben (die viel härtere Sado-Maso-Trilogie "50 Shades of Grey" von 2011-2012 wurde weltweit 100 Millionen Mal verkauft).

1969 wurden der Kuppeleiparagraf und der seit 1949 bestehende Paragraf 175 gekippt, der einem "Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen lasst", mit Gefängnisstrafe drohte. Bis 1998 musste ein Mann Kranzgeld, also eine Entschädigung, an seine Verlobte zahlen, wenn er ihr die Ehe versprochen, ihr, so der juristische Jargon, "beigewohnt" und dann das Verlöbnis gelöst hatte.

Jenseits der Gerichtsbarkeit herrschte in der Gesellschaft - ob West oder Ost - tiefste Intoleranz gegenüber Homosexuellen, Argwohn etwa gegenüber Frauen, die lange Hosen trugen, Paaren, die nicht nur zwecks Fortpflanzung agieren, sondern einfach Spaß haben wollten. Pille und sexuelle Revolution, die Debatten über den Abtreibungsparagrafen 218 und die Diskussion über die Grünen und ihr Pädophilie-Problem: "Schamlos?" greift alles auf.

Im engsten Gang der Ausstellung regiert das Rotlicht: Prostitution und Sexindustrie. Dass da in Deutschland jährlich 14,6 Milliarden Euro - fast gleich viel wie im deutschen Tankstellennetz - umgesetzt werden, erfährt man. Ebenso, dass 18 Prozent der Männer regelmäßig zu Prostituierten gehen und im Durchschnitt 25 Euro etwa auf dem Straßenstrich lassen. "Schamlos?" berichtet auch vom kläglichen Scheitern des rotgrünen Prostitutionsgesetzes von 2001, das den Sexarbeiterinnen Sicherheit geben sollte.

Von den 200 000 aktiven Prostituierten waren 2013 gerade einmal 44 angestellt und sozialversichert, ermittelte die Bundesagentur für Arbeit. "Deutschland ist mittlerweile das Bordell Europas", gibt Harald Biermann, Kommunikationschef des Hauses der Geschichte, zu bedenken. Deprimierend. Die exzellente Schau "Schamlos?" zeigt alle Facetten des Themas. Auch die düsteren.

Haus der Geschichte; bis 14. Februar 2016, Di-Fr 9-19, Sa, So 10-18 Uhr

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