Verklammert im tänzerischen Nahkampf

Das Bonner Theater im Ballsaal startet mit dem Stück "Grenzgänger" in die neue Saison

Bonn. Im Dunkeln ein vielsprachiges Stimmengewirr, das langsam näher kommt und wieder zurück gleitet. Ein deutscher Volkslied-Ton klingt an: "Das Ringlein ist zerbrochen" - die romantische Sehnsucht nach dem Glück hat Sprünge bekommen.

Um die Suche nach irgendeinem Glück geht es in "Grenzgänger", dem neuen Stück des Bonner "fringe ensembles" und des Münsteraner Theaters "phoenix5", mit dem das Theater im Ballsaal unter neuer Leitung die Saison eröffnet hat Es sind sehr persönliche Geschichten vom Fremdsein in Deutschland, kleine Ausschnitte aus Biografien, die hier ihren Fluchtpunkt haben.

Der Regisseur Frank Heuel und der Dramaturg Harald Redmer haben sie in Interviews gesammelt und zu Texten verdichtet, die ganz unpathetisch von alltäglichen Befindlichkeiten berichten. Kein Flüchtlings-oder Emigrantenelend also, keine Schreckensgeschichten von Heimatverlust und Fremdenfeindlichkeit, sondern ganz normale Erzählungen von Menschen, die freiwillig oder zufällig hier und nicht woanders leben.

Auf der Bühne sind es auch keine eindeutigen Figuren, sondern Facetten von Individuen, denen darstellerische Subtexte den Spielraum verleihen, der innere und äußere Grenzen als Konfliktpotential transparent macht. Sie hocken in einer Reihe von engen weißen Zellen auf Matratzen wie bestellt und nicht abgeholt (Bühne und Kostüme: Lisa Witzmann), verstecken sich hinter den Jalousien ihrer Käfige, kauen Möhren wie autistische Stallhasen. Ab und zu verklammern sich zwei Seiten eines Ichs in einem tänzerischen Nahkampf.

Die Schweizerin Laila Nielsen und die Niederländerin Judith Lodewijks (bei der Premiere durch eine Knieverletzung gehandicapt) teilen sich mit unverwüstlicher Fröhlichkeit die Geschichte der jungen Litauerin mit, die den Prügeln ihres östlichen Ehemanns die Schläge eines alten deutschen Gatten vorzog, als Prostituierte anständiges Geld nach Hause schicken konnte und ihre Reisen vom Baltikum über Polen in den gelobten Westen fast wie ein Pfadfinderabenteuer schildert.

Der in Deutschland geborene jugoslawische Intellektuelle hat schlicht die BRD-Einbürgerung und den Zerfall seiner Nation verpasst. Die Elternländer Kroatien und Montenegro sind irgendwo unten, das vertraute Niemandsland oben duldet ihn, solange er dableibt. Stefan H. Kraft spielt ihn mit lässiger Selbstironie, seine psychischen Verletzungen brüllt David Fischer rabiat heraus.

Es gibt den rumänischen Gelegenheitsarbeiter, der sich irgendwie durchlaviert, den italienischen Eisdielenbesitzer, der im steifen Interview seine Leseleidenschaft gesteht und dem deutschen Wirtschaftwunder längst nicht mehr vertraut, die Übersetzerin aus Togo, die türkische Reisefachfrau (Bettina Marugg in einem hinreißenden Solo), der der vom Bühnenhimmel rieselnde Wüstensand den Blick vertrocknet.

Genau zwischen federnder Leichtigkeit und knallhartem Zuschlagen auf den wechselseitigen Umgang mit Grenzen bewegt sich die Inszenierung. Am Ende träumen sich alle auf einem Strohbett das Restglück in die gleichgeschalteten Köpfe.

Weitere Vorstellungen: 15.-19. September, jeweils um 20 Uhr. Karten unter Telefonnummer: (02 28) 79 79 01

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