Diskussion im Haus der Geschichte Verstand vor Herz

Bonn · Norbert Lammert und Navid Kermani analysieren den Zustand Europas: zwei Kultureuropäer, die sich angesichts wachsender Spaltungstendenzen und großer Probleme Sorgen machen – und die trotzdem die Hoffnung nicht aufgeben.

 Diskutanten: (von links) Navid Kermani, Moderator Michael Braun und Nobert Lammert.

Diskutanten: (von links) Navid Kermani, Moderator Michael Braun und Nobert Lammert.

Foto: Thomas Kölsch

Letztlich sind wir selber schuld. Wir, die wir Europa sind, auch wenn wir uns nicht unbedingt so fühlen mögen. Wir sind es, die immer wieder jene wählen, die auf Distanz zur EU gehen, die die nationalen Interessen über die der Staatengemeinschaft stellen und diese dadurch letztlich zu jenem zahnlosen Papiertiger machen, für den wir sie so gerne halten.

Genau diese Diskrepanz stand jetzt bei einem ganz besonderen Gespräch im Haus der Geschichte im Mittelpunkt, zu dem das Museum in Kooperation mit der Konrad-Adenauer-Stiftung und dem Verlag Christ & Welt eingeladen hatte. Bundestagspräsident Norbert Lammert traf dort auf den Schriftsteller Navid Kermani, der im vergangenen Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten und zuletzt sein Buch „Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa“ veröffentlicht hat. Zwei Kultureuropäer, die sich angesichts wachsender Spaltungstendenzen und großer Probleme sowohl im wirtschaftlichen als auch im sozialen Bereich Sorgen machen – und die trotzdem die Hoffnung nicht aufgeben.

Mit Blick auf den Brexit stand die Flüchtlingssituation, die ursprünglich ein zentraler Aspekt der Diskussion sein sollte, verständlicherweise hintan.

Stattdessen drehte sich das von Michael Braun moderierte Gespräch zunächst einmal um den Zustand Europas im Allgemeinen. Und um eine Definitionsfrage: „Was ist Europa eigentlich, und was soll es werden?“ Dies gelte es laut Lammert unbedingt zu beantworten. „Diese Unklarheit halte ich für eine viel größere Katastrophe als den Brexit“, sagte er. Tatsächlich zeige sich das in vielen Bereichen; darin stimmten Lammert und Kermani überein. „Wir haben einen gemeinsamen Markt, aber keine gemeinsame Wirtschaftspolitik“, beklagte letzterer. Stattdessen sehe man etwa im Osten die Marktstrukturen der EU mehr als Bedrohung denn als Befreiung – und blockiere dann lieber Beschlüsse, statt auch die positiven Seiten hervorzuheben.

Ohnehin, so kommentierte Lammert, sei die EU immer Schuld. „Wo immer die einzelnen Staaten an die Grenzen ihrer Möglichkeiten oder ihrer Bereitschaft stoßen, wird der EU der Schwarze Peter zugeschoben. Zugleich wird ihr die Macht verweigert, das entsprechende Problem mit eigenen Mitteln zu lösen“, sagte er. Ebenso würden unbequeme Mechanismen erst kollektiv beschlossen und dann in Frage gestellt, wenn sie gegen einen selbst angewendet werden. „Dabei gab es für Europa noch nie so viel demokratische Legitimität wie jetzt.“

Und noch nie so wenig Begeisterung. Diese gilt es wieder zu wecken – doch sind Emotionen ein zweischneidiges Schwert. „Bevor wir mit dem Herzen anfangen, sollten wir wieder verstärkt unseren Verstand einsetzen“, forderte Lammert mit Blick auf die Brexit-Kampagne und die Flüchtlingsdebatte, die mehr mit Ängsten als mit Fakten arbeiteten.

Wohin also geht es mit Europa? Navid Kermani gab bei der Diskussion zu, dass er inzwischen den lange abgelehnten Begriff des Europas der zwei Geschwindigkeiten für den einzigen Ausweg hält, um der Welt zu zeigen, dass in einer vertieften Staatengemeinschaft die Vorteile überwiegen. Ein Ansatz, der sich sogar längst umsetzen ließe, wie Lammert betonte. „Im Lissabon-Vertrag ist das geltende Rechtslage.“ Die Regeln müsste nur einmal jemand anwenden.

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