Zwei Konzerte beim Jazzfest Bonn Vorlage für die Walpurgisnacht

Bonn · Jazzfest: Michael Wollny Trio und fatsO in der Universität, Sidsel Endresen und Stian Westerhus in der Brotfabrik. Die Konzerte lebten von Kontrasten und Extremen.

 Sie sind für die dunkle Seite des Mondes zuständig: fatsO in der Aula der Universität.

Sie sind für die dunkle Seite des Mondes zuständig: fatsO in der Aula der Universität.

Keine leichte Aufgabe für Michael Wollny: eine Brücke zu schlagen vom Welttag des Jazz, der am Samstag mit einem Allstar-Konzert bei Familie Obama gefeiert wurde, zur anschließenden Walpurgisnacht. Doch der Jazzpianist, der einmal ganz klein beim Jazzfest Bonn anfing und inzwischen einer der ganz großen Stars in Deutschland und in der internationalen Szene ist, meisterte diesen Spagat mit Bravour.

Und das lag nicht nur am maßgeschneiderten Programm, das er in die Aula der Universität mitgebracht hatte: „Klangspuren“, das neue Live-Album, das großteils auf die vielfach prämierte CD „Nachtfahrten“ zurückgeht, kann mit somnambulen Melodien die süßen Träume ebenso evozieren, wie die Dämonen der Nacht aus ihren Löchern holen. Es ist eine Musik, die Emotionen berücksichtigt und bedient, aber eben auch die unendlichen Möglichkeiten ausreizt, die der Jazz bietet.

Mit Angelo Badalamentis gleichermaßen narkotisierenden wie aufregenden „Questions In A World Of Blue“ aus der TV-Serie „Twin Peaks“ war der Weg in dieses Zwischenreich der Nacht vorgezeichnet. Rund ein Dutzend fantastischer Kompositionen von Wollny, seinem Schlagzeuger Eric Schaefer, aber auch Guillaume de Machaut erklangen in drei Blöcken vereinigt – eine traumhafte Suite mit jeweils ähnlichem Aufbau der Sätze: kontemplativer Auftakt, mal sehr minimalistisch, klar strukturiert, mal eingängig-melodiös, einschmeichelnd.

Irgendwann kommt dann der Moment, in dem sich das Stück ins Surreale wendet, sich öffnet für eine bizarre Klangwelt, in der Wollny im Korpus des Flügels zupfend und schlagend nach Effekten sucht, Christian Webers Bass unglaublich fahle und brüchige Töne hervorbringt und auch Schaefers Schlagzeug an die Grenzen des Bekannten geht.

Wollny selbst ist es, der nach dem Exkurs ins scheinbar Ungewisse, nach dem zeitweiligen Kollaps wieder den Weg zum strukturierten Musizieren sucht und findet. Das Schöne an diesem Prinzip: Es passiert immer Unerwartetes. Ob bei „White Moon“, „When The Sleeper Wakes“ oder „Nacht“, es ist ein großes Abenteuer, was Wollny, Schaefer und Weber daraus machen. Riesenapplaus für einen der Höhepunkte dieses Festivals. Standing Ovations für einen Musiker, der mit Charme, Fantasie und Können den Unterschied macht.

Während es bei Wollny & Co. um eine lyrisch-poetische Auslotung der Nacht ging, waren fatsO anschließend diejenigen, die für die dunkle Seite des Mondes zuständig waren, das Düstere, Fiese. Allein die vier Mann starke Bläsergruppe, allesamt mit Sonnenbrille, Krawatte und im Anzug, voller Testosteron und cool bis in die Haarspitzen – bis auf den Kahlkopf Julio Panadero an der Klarinette – hatte es in sich: die Blues Brothers aus Bogotá. Ergänzt wurde die Bläserformation aus Kolumbien bei ihrem ersten großen Deutschlandauftritt durch einen Schlagzeuger und den Frontmann Daniel Restrepo mit Kontrabass und rauer Tom-Waits-Stimme.

Herzschmerz und Hunger, Existenzangst und Medienterror: Die sechs Musiker von fatsO packen ihre kritische Texte in dreckigen, erdigen Blues, in einen dampfenden, pulsierenden Retro-Jazz, der bisweilen wie eine Parodie klingt, doch wahrscheinlich gar nicht als solche gemeint ist.

Die Nummern des Sextetts, die zum Teil eine perfekte Symbiose aus lateinamerikanischer Funeralmusik und US-amerikanischem Blues sowie Rock bilden, klingen bisweilen etwas eintönig, was am wenig variantenreichen Gesang Restrepos liegt. Die fantastischen Bläser (Klarinette, Saxofon) hielten das Publikum mit ihren fulminanten Soli aber bei der Stange. Die vier Blues Brothers aus Bogotá waren der Hit. Eine finstere, gelungene Vorlage für die Walpurgisnacht.

Was ist Musik? Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Bedarf sie der Klänge, oder kann sie auch eine Ansammlung von Geräuschen sein? Diese Fragen drängen sich bei dem Auftritt von Sidsel Endresen und Stian Westerhus unweigerlich auf. Ist das, was die beiden Norweger da in der Brotfabrik präsentieren und was sich herkömmlichen Begriffen wie Tonalität, Harmonie und Melodie nahezu vollständig entzieht, noch Kunst, oder kann das schon weg?

Wie lässt sich dieses amorphe Geräuschkonstrukt definieren, das in weiten Teilen mehr mit der kosmischen Hintergrundstrahlung als mit dem sonst üblichen Verständnis von Musik zu tun hat und das etwa die Hälfte des Publikums in dem anfangs bis auf den letzten Platz gefüllten Saal nach und nach in die Flucht treibt? Dieses Klackern und Kratzen, Knattern und Schnarren, Grollen und Brummen, das Endresen, immerhin die wohl einflussreichste Jazz-Sängerin ihrer Heimat, und ihr Experimental-Gitarrist von sich geben und das die wenigen Momente, in denen sich tatsächlich so etwas wie Harmonie aus der Asche dieser gewaltigen Klangdekonstruktion erhebt, nur umso mehr besonders betont, scheidet die Geister.

Während die einen es nicht aushalten, sind die anderen voll des Lobes. Der Auftritt wird so zu einem Äquivalent der Fettecke von Joseph Beuys. Auch dieses Werk sorgte für hitzige Diskussionen in der Kunstszene – vor allem nachdem eine Reinigungskraft neun Monate nach dem Tod des Künstlers besagte Fettecke „entsorgte“, was zu einem Eklat führte. Endresen ist zumindest an diesem Abend ähnlich umstritten: Manche bezeichnen sie als personifizierte Innovation, die die Grenzen der Musik ausdehne. Und andere sehnen sich nach einem Hausmeister.

Diese Diskussion stellt sich zumindest beim vorhergehenden ersten Konzert des Abends nicht: Das Spiel der Fuhr Brothers um den Saxofonisten Wolfgang und dessen Bruder, den herausragenden Bassisten Dietmar Fuhr, liegt auf einer ganz anderen Ebene, ist weitaus konsumierbarer und nachvollziehbarer als Endresens und Westerhuses Noise-Performance. Das Quartett hat sich Kompositionen von Albert Mangelsdorff, Wolfgang Dauner und Gerd Dudek angenommen, die im virtuosen Miteinander für ungeteilte Begeisterung sorgen, auch wenn die Seele nur bedingt angeregt wird. Technisch bieten die vier Musiker auf jeden Fall ein exzellentes Konzert, das mit einem herrlichen Arrangement eines mittelalterlichen Liedchens auch ein furioses Finale aufweist.

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