Auf den Spuren der Gewalt Was treibt den Menschen zur Aggression?

Bonn · Gewalttaten nehmen zu – so glauben es viele Menschen wahrzunehmen. Fälle wie der Tod des Niklas P. werden kontrovers diskutiert. Aber was ist es, das den Menschen zur Aggression treibt? Der Neurowissenschaftler Joachim Bauer macht den Ursprung der Gewalt an täglicher Ausgrenzung fest.

Mitten in Bad Godesberg wurde ein Junge zu Tode geprügelt. Da hat man doch Angst, wenn einem hier seltsame Gestalten hinterherlaufen – auch wenn sie gar nichts machen“, diktiert eine Frau Journalisten in den Block. Knapp ein Jahr ist es her, dass der 17-jährige Niklas Pöhler an der Rheinallee von drei Tätern attackiert und von einem so gegen den Kopf geschlagen wurde, dass er starb.

Dass ein Tatverdächtiger jetzt wegen Mangels an Beweisen freigesprochen wurde, heizt die Stimmung wieder an. Alte Diskussionen kochen hoch. Es herrsche ein massives Gefühl der Bedrohung im Stadtteil, äußern Befragte. Dabei belegt die Polizei: Körperverletzungsdelikte in Bad Godesberg sind erheblich zurückgegangen.

Ob der jetzt Freigesprochene der Täter gewesen sei oder nicht, sei fast unerheblich, so klingt es in einigen Vorwürfen in den sozialen Medien mit: Alle, die am Abend der Tat dort waren, gehörten hinter Gitter – denn „die stecken doch alle unter einer Decke“. Jetzt bleibt die Sehnsucht unerfüllt, einen Täter identifiziert und zur Verantwortung gezogen zu sehen. Da werden sogar die Prinzipien des Rechtsstaats in Gänze bezweifelt. Man hat sie ausgemacht, „die Bösen“ unter uns. Es sind die anderen.

Ach, das wäre einfach, wenn Menschen sich ganz klar einteilen ließen: Dieser ist gut, jener ist schlecht. Ende des 19. Jahrhunderts untersuchte ein italienischer Gefängnisarzt die Schädelform von Schwerkriminellen und leitete daraus den „Homo Delinquens“ ab. Er glaubte, beweisen zu können, Verbrecher trügen „das Böse“ von Geburt an in sich, man könne es ihnen sogar äußerlich ansehen.

Der Präsident, der nur schwarz und weiß kennt

Wohin so etwas führt, wissen wir Deutschen am besten. Was nicht heißt, dass wir gefeit wären, angesichts von Gewalt die Menschheit nicht erneut in Schubladen zu stecken. In Übersee macht es uns ein verrohter Präsident im Reality-TV-Format täglich mit neuen Tweets vor: Die Welt lässt sich fantastisch in nur zwei Kategorien betrachten.

Aber kommen wir von populistischer Vereinfachung zur Wissenschaft. Auf den Psychoanalytiker Sigmund Freud geht die Theorie des Aggressionstriebs zurück: Der Mensch werde von einer Lust am Töten, an Aggression und Zerstörung getrieben. Später wurde daraus gefolgert: Per Aggressionstrieb ließen sich auch der Raubtierkapitalismus und die Nazi-Verbrechen erklären.

Wobei sich weder der Sitz dieses „Bösen“ lokalisieren, noch erklären ließ, weshalb es sich bei den einen in sadistischer Gewalt Raum verschafft und bei den anderen eben nicht. Kein anderes Lebewesen fügt bekanntlich dem Artgenossen derartiges Leid zu wie der Mensch. Aber tut das der Mensch an sich – oder nicht doch nur „die Bösen“?

Freuds Aggressionstrieb habe sich als großer Flop der Psychoanalyse erwiesen, behauptet der Freiburger Mediziner und Psychotherapeut Joachim Bauer. Der Mensch sei dem Menschen gar kein Wolf, sondern seinem Wesen nach sozial und emphatisch. Er werde durch nichts so sehr animiert wie durch soziale Integration und Anerkennung.

Der Hochkapitalismus fördert Gewaltausbrüche Einzelner

Aggression sei sogar ein nützliches biologisches Signal, wenn Menschen körperlich oder psychisch verletzt und ausgegrenzt worden seien, schreibt Bauer in seinem Buch „Schmerzgrenze – Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt“. Der Ursprung dieser Gewaltformen sei die logische Reaktion auf Bedrohungen durch die Außenwelt. Und gerade der Hochkapitalismus und seine Kultur der Ausgrenzung würden Gewaltausbrüche Einzelner fördern.

Professor Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler. Er erforscht die Funktionsweise des Nervensystems. Anhand vielfältiger Untersuchungen legt er dar, dass Aggression kein Instinkt sei, der immer wieder aus uns herausbrechen müsse. Sie sei (wie Angst und Flucht) eine Reaktion auf physische, aber auch psychische Bedrohungen wie Hass oder Ausgrenzung.

Es gebe kein eindeutiges Gut oder Böse, solange nicht menschenwürdige Lebensbedingungen für jeden geschaffen seien. Man mache es sich zu leicht, Menschen nur moralischen oder unmoralischen Positionen zuzuordnen. Bauer mahnt im Sinne von: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.

Spirale der Gewalt

Wobei er keineswegs brutale Gewalt und Zerstörungswut verkennt. Bauer nennt sie beim Namen und arbeitet nicht mit dem Weichzeichner. Er sieht Aggression und überbordende Gewalt als das, was sie sind: als verabscheuenswürdig und als Fall für den Richter. Aber der Neurowissenschaftler warnt, dass gerade psychische Verletzungen und Demütigungen in zwischenmenschlichen Beziehungen wie im städtischen Umfeld Spuren hinterlassen.

Wenn dann irgendwann eine Schmerzgrenze überschritten sei, reagierten Gedemütigte mit Aggression gegen Menschen oder Dinge. Die müsse sich keineswegs gegen die Verursacher ihres Schmerzes richten, sondern könne zeitversetzt Unbeteiligte treffen und eine Spirale der Gewalt in Gang setzen. So komme es immer wieder zu Szenen größter Brutalität. Eine tief in uns biologisch auffindbare „Macht des Bösen“ aber, deren Vorhandensein es leicht machen würde, Menschen abzuurteilen – die gebe es nicht.

Wie das mit den örtlichen Diskussionen über Jugendgewalt zusammenhängt? Der Verein Lese-Kultur Godesberg hat Professor Bauer in seiner Vortrags- und Diskussionsreihe „Der Fall Niklas P. – Ein Jahr danach“ eingeladen. „Wir wollen nach dem gewaltsamen Tod von Niklas Pöhler an der Rheinallee am 12. Mai 2016 die Fragen, Sorgen und das anhaltende Interesse der Godesberger mit Veranstaltungen zum Thema Gewalt und Aggression aufgreifen“, erklärt Vereinssprecher Felix Ter-Nedden.

Mit dem Experten Bauer und dem Publikum solle der Todesfall und die Situation im Stadtteil ohne Pauschalisierung oder Popularisierung diskutiert werden. „Wir wollen Erklärungen finden und durch fachliche Betrachtung irrationalen Ängsten und Hysterie entgegenwirken.“ Aus unterschiedlichen Blickwinkeln wolle man so eine differenzierte Einordnung des Falls und der Folgen fördern.

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