"Westwärts 08" endet in Bonner Kammerspielen

Roberto Ciullis Inszenierung des "König Lear" vom Theater an der Ruhr in Mülheim - Narren sind sie alle

Bonn. Lear's Last Tape - am Ende wird er sich ein Tonband um Hals und Kopf wickeln, ab und zu lächelnd in das stumme Aufzeichnungsmaterial hineinhorchen und das Leben einfach weiterziehen lassen. Angeregt durch den berühmten Essay von Jan Kott liest Roberto Ciulli in seiner Inszenierung am Mülheimer Theater an der Ruhr Shakespares "König Lear" mit den Augen Becketts. Er verzichtet auf illustrierende Bilder; das von kühlem Neonlicht begrenzte Spielfeld (Bühne: Gralf-Edzard Habben) ist ein Laboratorium der Erinnerungen.

Auf einem Tisch steht ein altes Tonbandgerät, in dessen Reproduktion der Geschichte der alte König fast hineinkriecht wie Krapp in seine Spulen der Vergangenheit. Die fatale Aufteilung seines Reiches in einem Rhetorikwettbewerb seiner Töchter kommt aus der Konserve, bis die Wörter in Cordelias Mund Gestalt annehmen.

Simone Thoma krächzt ihre unverstellte Wahrheit mit verstellter Stimme. Sie ist das ungefällige Kind, das wegen seiner Ehrlichkeit verstoßen wird. Sie ist eine Zumutung, weil sie vernarrt ist in die Wahrheit und den Narren nicht nur spielt. Bei Ciulli sind Cordelia und der Narr tatsächlich ein und dieselbe Theaterfigur. Narren sind freilich alle in diesem grausamen Kinderspiel.

Lear bildet sich ein, seine Königswürde behalten zu können, wenn er sein Land grundlos verschenkt. Er macht sich zum Gespött seiner undankbaren Töchter Goneril (Petra von der Beck) und Regan (Dorothee Lindner), die ihrer neuen Macht erliegen und dem intriganten Bastard Edmund (Fabio Menéndez), der alles haben will und dafür seinen Vater Graf Gloucester gnadenlos ans Messer liefert. Klaus Herzog spielt diesen hilflosen Ehrenmann, der in jede noch so absurde Falle läuft. Die verblendeten Augen, die er anfangs hinter einer Sonnenbrille verbarg, werden ihm brutal ausgestochen. Hier reicht ein leises Knirschen von Glas in Regans Händen vor einem geöffneten Kühlschrank für die furchtbare Verstümmelung.

Der Schrecken ist hörbar, weil er der Sichtbarkeit in der alltäglichen Bilderflut der Gegenwart abhanden gekommen ist. Gloucesters todessüchtig blinde Wanderung zum Felsen von Dover an der Hand seines unerkannten, verrückt spielenden legitimen Sohnes Edgar eine groteske Pantomime, weil der reale Fall vor dem geglaubten Sturz liegt. Gloucesters überlebter Selbstmord ist nur ein närrischer Theaterwitz.

Steffen Reuber spielt mit bestürzender Körperlichkeit das halbnackte, winselnde und grunzende Tier, in das der geächtete Edgar sich in seinem Selbsterhaltungstrieb verwandelt.

Sein animalischer "armer Tom" in der Heidehütte ist die menschlichste Figur in dem bösen Spiel, weil er sich bewusst zum Narren macht. Der brave Kent (Peter Kapusta) geht als tapferer Bürger in die Verbannung und spannt seinen Schirm auf beim Unwetter auf der Heide, wo der arme König Lear den Verstand verliert. Es gibt in dieser großen Szene weder Sturm noch Donner. Volker Roos als einsamer alter Lear wütet hier nicht gegen die Elemente, sondern schaut leise, ruhig und klar auf die Irrwege in seinem Kopf, bevor er ihnen endgültig folgt.

"Reifsein ist alles", sagt der Narr, bevor er sich von seinem Herrn verabschiedet. Reif für das Leben und den Tod, den hellen Wahnsinn und die Nacht der Vernunft.

Der Spielzeugkreisel des Narren dreht sich ungerührt weiter. Möglicherweise haben alle das alte Schattenspiel vom König Lear nur geträumt und stolpern nach ihrem Bühnentod hoffnungslos komisch zurück in die Zeit, "da noch eine Aussicht auf Glück bestand".

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