"Selma" Wortgewalt gegen Polizeiknüppel
BONN · David Oyelowo brilliert als Martin Luther King in Ava DuVernays Film "Selma", der morgen ins Kino kommt
"Darf ich mich vorstellen?" fragt der bullige Weiße und rammt Martin Luther King seine Faust ins Gesicht. Willkommen in Selma/Alabama. Hier pocht das rassistisch verhärtete Herz des Südens, hier wird der Kampf um das juristisch garantierte, praktisch aber blockierte Wahlrecht der Farbigen einen hohen Blutzoll kosten. In einer frühen Szene spielt Oprah Winfrey die schwarze Annie Lee Cooper, die sich ins Wahlregister eintragen will. Zuerst muss sie die Präambel der Verfassung aufsagen. Und wie viele Bezirksrichter hat Alabama? 67, richtig. "Nenn ihre Namen", fordert der Gerichtsdiener als letzte Schikane. Mrs. Cooper gibt auf.
Der frisch dekorierte Friedensnobelpreisträger Dr. King weiß all dies, als er 1965 nach Selma kommt. Aber er weiß auch: Wer hier siegt, hat die übelste Bastion der Südstaaten geschleift.
Drei Protestmärsche gibt es schließlich von Selma in die Hauptstadt Montgomery, wo Gouverneur George Wallace (Tim Roth) die Rechte der Farbigen hartnäckig torpediert. Und als die erste Demonstration schon an der Edmund-Pettus-Brücke von der Staatsgewalt brutal zusammengedroschen wird, gewinnt Ava DuVernays Drama "Selma" (ab morgen im Kino) nervenzerrende Actionhärte.
Dennoch hat die Regisseurin hier kein zweites "Mississippi Burning" gedreht, sondern verknüpft das packendes Charakterporträt des Bürgerrechtlers geschickt mt explosivem Lokalkolorit und einem Blick hinter die politischen Kulissen. Gewiss, man wirft dem Film in den USA vor, Lyndon B. Johnson (Tom Wilkinson) im verbalen Scharmützel mit King als allzu zaudernden Taktierer zu zeichnen. Und doch gerät der aufgrund des Vietnamkriegs unter Druck stehende Präsident keineswegs zur Karikatur. Empört weist er den Vorschlag des FBI-Chefs Edgar J. Hoover zurück, Dr. King "unwiderruflich" loszuwerden.
Denn der gewaltlose Stratege ist ihm allemal lieber als der militante Malcolm X. So begnügt sich Hoover mit permanenter Überwachung der Kings, die als Ticker-Protokoll durchs Bild läuft. Zwischen den Machtproben im Oval Office und den Jagdszenen von Alabama zeichnet DuVernay das Sittenbild einer empörend rückständigen Epoche, die an Südafrikas Apartheid erinnert. Es gibt Gewaltexzesse einer stiernackigen "Herrenrasse", aber auch Zwist in der schwarzen Widerstandsbewegung, wo nicht jeder dem Publicity-Star Martin Luther King folgt.
Statt dessen Jugend, Aufstieg und frühen Tod durch das Attentat von 1968 zu zeigen, hält "Selma" den Zeitrahmen bewusst eng. Doch darin bewegt sich der britische Schauspieler David Oyelowo ebenso dynamisch wie subtil.
Am besten glücken der Regisseurin die Staustufen im rasenden Erzählfluss: Wenn sich King bei seiner Frau Coretta (stolz und verletzlich: Carmen Ejogo) ausruht und wie sie diesen allgegenwärtigen "Nebel des Todes" spürt. In diesen nächtlichen Gesprächen wird klar, wie riskant es ist, nur mit Wortgewalt gegen Polizeiknüppel anzutreten. So sehr Oyelowo Kings Charisma leuchten lässt, so klug hält er die Figur vom bruchlosen Heiligenbild fern. Kein Zweifel, diese Leistung hätte eine Oscar-Nominierung als bester Hauptdarsteller gerechtfertigt - doch die Academy war leider mit Blindheit geschlagen.