Literaturnobelpreis für Annie Ernaux Schonungslose Selbsterkunderin

Stockholm · Die Französin Annie Ernaux bekommt den Literaturnobelpreis 2022. Mit Ernaux hat das Nobelpreiskomitee eine glänzende Wahl getroffen, findet GA-Autor Lothar Schröder.

Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux im Jahr 1984 in Cannes.

Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux im Jahr 1984 in Cannes.

Foto: dpa/Pierre Guillaud

Wie wunderbar ist die Entscheidung aus Stockholm, der französischen Erzählerin Annie Ernaux den Literaturnobelpreis 2022 zu geben und damit die Aufmerksamkeit auf stilistisch brillante, gleichwohl erschreckende Selbsterkundungen zu lenken. Annie Ernaux zu lesen, ist geschenkter Einblick ins Leben.

Die Wahl der 82-Jährigen ist allein vor dem Hintergrund aufregend, dass dem Literaturnobelpreiskomitee mitunter eine gewisse Querköpfigkeit zu eigen ist mit der Vorliebe für hermetische Entscheidungen. Ernaux war dagegen eine zunehmend sichere Bank. In den vergangenen Tagen gehörte sie schon zum engsten Favoritenkreis, wenige Stunden vor der Verkündigung aber führte sie bei den Buchmachern das Feld souverän an. Alles zu Recht.

Aber dafür muss man noch früher beginnen: in den späten 1940er Jahren in Yvetot in der Normandie nämlich, wo sie ihre Kindheit und Jugend verbringt. Oder im französischen Ferienlager 1958, Zeit und Ort ihrer ersten sexuellen Begegnung und der Erfahrung von weiblicher Unterdrückung, männlicher Macht und tiefer Scham. Oder Paris 1963, als die junge Studentin sich zum Schwangerschaftsabbruch entschließt, gedemütigt und verletzt wird, beinahe verblutet.

Kompromisslose Literaturwerdung

All das sind keine Indiskretionen aus dem Leben einer Autorin. Es sind Leseerfahrungen aus dem Werk einer Schriftstellerin, die ihr Leben kompromisslos zur Literatur werden ließ, nicht um davor zu flüchten oder es schreibend zu verarbeiten, sondern um es als Essenz weiblicher Selbsterkundung und Dokumente des Lebens einer Frau des 20. und 21. Jahrhunderts vielen zugänglich zu machen. Als Ethnologin ihrer selbst wird sie auch bezeichnet, als eine, die ihr Leben ausstellt, um etwas über unsere Gesellschaft zu erzählen, über unsere Zeit, über uns.

Auch darum sollte man von Ernaux möglichst viel, am besten alles lesen. Vor allem aber dies: „An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“ Mit dieser Ungeheuerlichkeit beginnt „Die Scham“ von 1997, das skandalöserweise erst 13 Jahre später auch ins Deutsche übersetzt wurde. Annie Ernaux ist zwölf, als sich der Eklat in der Familie ereignet. Sinnlos ist ihr späterer Versuch, diesen Ausbruch von Gewalt zu vergessen. Schon deshalb, weil gerade damit die Stigmatisierung einer Familie geschildert wird, die mit aller Kraft den sozialen Aufstieg zu schaffen sucht und desillusioniert doch immer wieder zurückfällt. Wie auch in ihren anderen Büchern verklärt Ernaux über jede Schmerzgrenze hinaus nichts. Aber sie denunziert keine ihrer Figuren. Die Klarheit ihrer Schilderungen macht den Schrecken nicht größer oder spektakulärer, sondern lässt ihn noch näher an uns heranrücken.

Weil alle ihre Bücher mit den Lebensfäden ihrer Autorin verknüpft sind, schließt daran etwa „Das Ergebnis“ an, die Geschichte ihrer ungewollten Schwangerschaft. Ein uneheliches Kind wäre für die Studentin Anfang der 1960er Jahre mit Sicherheit der soziale Abstieg in ein Milieu gewesen, dem sie mit dem Studium gerade erst zu entkommen versucht hatte. Wovon sie auch in „Der Platz“ erzählen wird. Darum bloß diesen Abstieg nicht, und so erträgt sie alle Demütigungen, die sie erlebt, erleidet und mit sich herumschleppen wird. Eingebrannt in ihr Lebensgedächtnis hat sich auch ihr erster Sexualkontakt. Eine Wunde bleibt, die sich niemals schließen wird. In dem Buch, das den gewollt viel zu lieblich anmutenden Titel „Erinnerungen eines Mädchens“ trägt, geht es mit ihren Worten um die Erforschung jenes „Abgrunds“ zwischen der ungeheuerlichen Wirklichkeit eines Geschehens „in dem Moment, in dem es geschieht, der merkwürdigen Unwirklichkeit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt“.

Ernaux schreibt auch ein Buch über ihre Mutter, nur 13 Tage nach deren Tod 1986. „Eine Frau“ erzählt das Leben einer Arbeiterin und späteren Ladenbesitzerin in einer durch und durch proletarischen Kleinstadt, deren letzten Lebensjahre eine Alzheimer-Erkrankung vernebelt. Kühl und herzlich schildert Ernaux dieses Leben, vertraut und fremd – wie in so vielen ihrer Bücher.

Die neue Literaturnobelpreisträgerin hat damit kein neues Genre gefunden und etabliert; aber sie bedient sich meisterhaft einer autofiktionalen Erzählform und zeigt, was ein solcher Zugang möglich macht. Das Private wird bei ihr politisch, das Individuelle allgemein. Literatur oder soziologische Fallstudie? Die Antwort ist eindeutig: immer beides. Dass ihre Bücher mit denen von Edouard Louis und Didier Eribon oft verglichen werden, zeigt eine besondere Vorliebe und Könnerschaft gerade französischer Autoren für diesen epischen Tonfall.

Ihr jüngstes Werk ist gerade in Frankreich erschienen, ein Sammelband mit Erzählungen und mit einem Rückblick auf ihre Liebesbeziehung zu einem 30 Jahre jüngeren Studenten. Ein Ereignis? Eine Empörung gar? Nichts von all dem bei ihr. Denn in ihrer Erinnerung an den jungen Liebhaber tauchen wieder die Armutserfahrungen ihrer Kindheit auf. Es ist, als spiele sie Szenen ihrer Kindheit wieder nach. Die Liebe wird zur kurzen Wiedergeburt einer Zeit, die nie mehr zurückkehren wird.

Annie Ernaux schaut mit uns zusammen auf ihr Leben. Und so sind wir niemals Voyeure, die begierig aufs Unerhörte hoffen. Wir dürfen bei ihr Leser bleiben, die in ihren Büchern die Welt finden und erfinden. Was für eine gute Wahl.

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