Ausstellung in London Sie sind Helden

London · Eine Londoner Schau bei Saatchi bastelt am makellosen Image der Rolling Stones

 Die undatierte Aufnahme zeigt die Rolling Stones: (v.l.) Bill Wyman, Brian Jones, Keith Richards, Mick Jagger und Charlie Watts.

Die undatierte Aufnahme zeigt die Rolling Stones: (v.l.) Bill Wyman, Brian Jones, Keith Richards, Mick Jagger und Charlie Watts.

Foto: Townsend

Es ist widerlich. Etliche Zigarettenkippen mischen sich mit gammeligen Essensresten auf in der ganzen Wohnung verstreuten Tellern. Im Waschbecken in der Küche türmt sich schmutziges Geschirr, dazu stehen leere Flaschen herum und solche mit saurer Milch. Der Schimmel, er gedeiht im Paradies. Die ungemachten Betten bieten hier fast einen Lichtblick. Dazu der Müffel. Der Gestank. Lebten hier „ani-mals“, „Tiere“, wie die britische Presse Anfang der 60er Jahre mutmaßte? Im Gegenteil: Die Bewohner dieser Wohnung sollten vielmehr Musikgeschichte schreiben. Der Gestank rührte vor allem aus dem Mix aus Chicken Tandoori und Fish & Chips. Rolling-Stones-Frontmann Mick Jagger liebte das indische Gericht, der britische Fast-Food-Dauerbrenner war die Leibspeise von Keith Richards, Gründungsmitglied Brian Jones und Band-Kumpel James Phelge.

In der heruntergerockten WG in Edith Grove im Londoner Stadtteil Chelsea hausten die Rolling Stones ab 1962 als Teenager, kurz bevor sie ihren Durchbruch feierten und als Richards' Mutter noch wöchentlich vorbeikam, um die Wäsche abzuholen. Die Absteige wurde nun für eine Ausstellung über die wohl berühmteste Rockband der Welt in der Londoner Saatchi Gallery rekonstruiert, inklusive Duftnoten. „Exhibitionismus“ heißt die Schau – und der Titel verspricht die Entblößung, die auf zwei Stockwerken folgen soll. Die Musikstars, deren Motto es stets war, nicht zurückzublicken, tun genau das. Sie lassen Besucher durch die vergangenen Jahrzehnte streifen mit Hilfe von Instrumenten, Tagebuchnotizen von Keith Richards und Dutzenden Outfits, etwa Jaggers schwarzem Omega-Shirt, das er bei der Altamont-Tragödie 1969 trug, oder der goldglitzernde Overall eines Auftritts in den 70er Jahren.

Bislang unveröffentlichte Fotografien, Bühnenskizzen, Videoinstallationen und Tour-Plakate werden gezeigt. Die ärmlichen Verhältnisse vom Beginn der Karriere stehen im krassen Kontrast zu den sensationellen Bühnenspektakeln, für die die Band bis heute bekannt ist und die den immensen Erfolg der musikalischen Ikonen veranschaulichen. Mittels 3D-Brillen werden Fans zu Rockstars und genießen den Moment, den Mick Jagger schon tausendfach erlebt hat. Man tritt aus dem Backstage-Bereich hinaus auf den Laufsteg, hinaus in die jubelnde Menschenmasse, umgeben von Richards und Co. Nicht nur der unfassbare Lärm erzeugt Gänsehaut. „I Can't Get No Satisfaction“. Doch. Es ist selbst durch die Brille einfach nur überwältigend. Die Botschaft dieser monumentalen Ausstellung kommt laut, glamourös und eindrucksvoll an, was sonst? Die Rolling Stones haben mit ihrer Musik, ihren Live-Shows und den Provokationen, man denke nur an das Logo der herausgestreckten Zunge, dem ebenfalls ein Raum gewidmet ist, nicht nur den Rock'n'Roll geprägt wie kaum eine andere Band. „Sie hatten auf bedeutsame Weise Einfluss auf unsere Kultur“, sagt Kuratorin Ileen Gallagher.

Anhand von rund 500 Objekten reist der Besucher durch mehr als 50 Jahre Bandgeschichte. Es ist eine unterhaltsame und gleichwohl eindringliche Erinnerung daran, wie lange die Rolling Stones bereits die Bühnen dieser Welt rocken. Die Stars – mit zusammengerechnet 286 Jahren selbst im Museumsalter – verkündeten allein durch den Ausstellungstitel, sich entblößen zu wollen und haben bereits bei der Eröffnung auf dem roten Teppich die Befriedigung daran offenbart, beobachtet, bestaunt, bewundert zu werden. Sie gaben sich persönlich die Ehre, weil die Band und insbesondere Mick Jagger großen Einfluss auf das Konzept und die Umsetzung der Ausstellung hatten. Ist es deshalb in vielen Teilen keineswegs exhibitionistisch, sondern wirkt vielmehr wie eine Selbstbeweihräucherung, die offenbar den Heiligenstatus manifestieren soll?

Frauengeschichten lässt die Re-trospektive komplett aus, obwohl man gerne mehr über Affären, Kinder und Ehen erfahren hätte. Kaum ein Wort von sexuellen Eskapaden, Drogenskandalen, Alkoholexzessen. Nur schwerlich lassen sich Makel finden. Selbst der Tod von Brian Jones sowie das Altamont-Desaster werden thematisch kaum angerissen. Die bekannten Spannungen und Konflikte zwischen Mick Jagger, Keith Richards, Charlie Watts und Ronnie Wood gab es der Schau zufolge ebenfalls nicht, dafür unaufhörlich harmonische Freundschaft. Negativ-Geschichten passen nicht zum Heldenmythos. Und diese Ausstellung, so kritisierten die teils wütenden Medien auf der Insel, ziehe den Fans das Geld aus der Tasche. Nicht nur die Eintrittspreise haben es in sich, der Ausstellungs-Shop dürfte einzigartig in seiner Art des Merchandisings sein. Eine Einkaufstasche ist für 250 Pfund, umgerechnet rund 315 Euro, zu haben, der Kosmetikkoffer liegt bei 1390 Pfund (etwa 1800 Euro). Der Souvenirladen zeigt auf entlarvende Art und Weise: Die Stones sind im Establishment angekommen.

Saatchi Gallery, London; bis 4. September. Täglich 10-18 Uhr. Eintritt ab 16 Pfund

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