Brillanter Roman aus Frankreich So ist Nicolas Mathieus „Wie später ihre Kinder“

Bonn · Lieben und Leiden in Ostfrankreich: Der Roman ist nicht zuletzt ein Buch über die Abgehängten.

Anthony ist 14, leidet an der bleiernen Hitze in der abgehängten Industriestadt im Osten Frankreichs. Einst glühten hier die Hochöfen, jetzt herrscht Tristesse. Klar, sein älterer Cousin ist cool, doch die anderen Familienmitglieder verachtet er „wegen ihrer mickrigen Hoffnungen, sogar ihr Unglück war erbärmlich“.

Willkommen in Heillange, jener fiktiven Stadt, hinter der sich in Nicolas Mathieus Roman „Wie später ihre Kinder“ wohl das lothringische Hayange verbirgt. „Die Männer redeten wenig und starben früh“, doch Anthony ist schmerzhaft jung. Also muss er im „geliehenen“ Kanu zu jenem Strand am See rudern, wo er das erotische Paradies vermutet – und Stéphanie Chaussoy trifft.

Mathieu wird beide im Auge behalten, den lebenshungrigen Arbeitersohn und das gar nicht so brave Mädchen aus der bürgerlichen Aufsteigerfamilie. Und dann ist da noch Hacine, der „Araber“ aus der Plattenbausiedlung, der dealt, stiehlt, es zwischendurch mit ehrlicher Arbeit versucht und doch immer mit einem Bein im Knast steht. Man kifft und trinkt, Zähne splittern, Herzen brechen.

Der 1978 in Epinal geborene Autor hat ein geniales dramaturgisches Raster für seinen Roman gefunden: Der beginnt 1992 und erreicht dann mit drei Zweijahressprüngen 1998, den Sommer, in dem Frankreich die Fußball-WM gewann.

Halbwüchsigen Heldenden Puls gefühlt

Jedes der vier Kapitel ist mit einer Leitmelodie betitelt, das Finale mit dem trotzigen „I Will Survive“. Alles beginnt jedoch mit „Smells Like Teen Spirit“. Dazu heißt es: „In jedem versifften Kaff hört die Jugend ,Nirvana’, die Band aus der gleichfalls vor sich hinrostenden Stadt Seattle trifft den Nerv der Zeit, indem sie ihren Weltschmerz in Wut, ihren Frust in Dezibel verwandelt.“ Oder in halsbrecherisches Tempo auf meist geklauten Motorrädern. Sensibel fühlt der Roman seinen halbwüchsigen Helden den Puls, der immer zwischen hitzigem Erlebnishunger und lähmender Zukunftsangst flattert.

Doch genau so scharf fällt der Blick auf die Alten: Anthonys Vater Patrick, der seinen beruflichen Abstieg in Suff und Selbstmitleid ersäuft, oder Monsieur Bouali, der seiner in Marokko noch unantastbaren Autorität gegenüber Hacine nachtrauert. Die Söhne entgleiten ihren Vätern, aber nicht zwangsläufig in eine bessere Zukunft.

Klar, dies ist nicht zuletzt ein Buch über die Abgehängten, ohne dass man es als simple Erklärung des Gelbwesten-Phänomens lesen sollte. Nicolas Mathieu dekliniert die soziale Leiter von Heillange vom Bürgermeister bis zum Sozialfall durch. Er macht sich dabei jede Perspektive, jede Gefühlslage so zu eigen, dass all diese Figuren mit ihrer ganz authentischen Stimme sprechen, fluchen, jammern. Statt nur ein Verliererlamento herunterzubeten, macht der Prix-Goncourt-Sieger von 2018 die Stadt Heillange zu einem Mikrokosmos, in dem fast alles möglich ist. Und ihm gelingt dies dank einer sinnlich-präzisen Prosa von knackiger Unmittelbarkeit, Sexszenen inklusive.

Ein anfänglicher Streit zwischen Anthony und Hacine zieht sich durchs ganze Buch. Und obwohl sich beider „Karrieren“ irgendwie ähneln, droht bis zum Schluss eine blutige Eskalation. Doch im Sommer 1998 spürt einer der Jungs auf dem Motorrad alles zugleich: den Wind im Gesicht, „die Körnung der Straße, vertraut wie die Haut eines Mädchens“. Und vor allem: „Die sanfte Beklemmung, dazuzugehören.“ Was für ein Buch!

Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder. Roman, aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen. Hanser Berlin, 445 S., 24 Euro. Am 17. September, 19.30 Uhr, liest Nicolas Mathieu auf Einladung des Literaturhauses Köln im Institut français, Sachsenring 77. Moderation Angela Spizig.

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