Rezension "Stella" erzählt von verräterischer Jüdin

Berlin · Für seinen neuen Roman hat Takis Würger die Jüdin Stella Goldschlag recherchiert. Mit dem Ergebnis hat der Autor sich selbst übertroffen, meint Hartmut Wilmes.

 Takis Würgers Buch basiert auf der historischen Figur Stella Goldschlag.

Takis Würgers Buch basiert auf der historischen Figur Stella Goldschlag.

Foto: Sven Döring / Agentur Focus

Weltabgeschieden wächst der junge Friedrich in einer Villa oberhalb von Choulex am Genfer See auf. Dennoch erreicht das Leid den 1922 geborenen Schweizer früh: Die Mutter will ihn als Maler sehen, doch der Hieb eines provozierten Kutschers raubt ihm das farbige Sehen und damit die mütterliche Gunst. Friedrich zieht sich zurück, „Schweigen wurde meine Art zu weinen“.

Der Vater ist als Importeur kostbarer Stoffe oft in fernen Ländern unterwegs, seine Frau stößt 1935 auf die Nürnberger Gesetze an, hisst später die Hakenkreuzflagge und schluckt ansonsten allzu viel Arak. Ausgerechnet 1942, als die Nazis die Judenvernichtung durchgeplant haben, zieht es den stillen Jungen in die brodelnde Stadt: Berlin.

Autor Takis Würger führt die große und die private Geschichte von Anfang an derart parallel, dass man weiß: Beide werden sich fatal in die Quere kommen. Auch Friedrich hat Gerüchte über Judentransporte gehört, flaniert aber zunächst fasziniert durchs Reizgewitter der Metropole. Im Aktzeichenkurs verfällt er dem Modell Kristin. Außerdem lernt er Tristan von Appen kennen, einen Freund französischer Delikatessen und verbotener amerikanischer Musik. Ein Hauch von „Jules und Jim“ liegt in der Berliner Luft, das Grauen scheint weit weg.

Doch nichts ist hier so, wie es auf den ersten Blick aussieht. Das beginnt mit Kristins Namen, weshalb Würgers zweiter Roman eben auch „Stella“ heißt. Stella Goldschlag, die schöne Jüdin, wird Friedrichs Schicksal. Und Tristan, der weltläufige Bonvivant, trägt eines Tages das Doppelblitzsymbol der SS am Revers. Friedrich ahnt, dass er kein Urlauber in diesem Krieg mehr sein kann.

Würger übertrifft sich in Stil und Handlung selbst

Es hat diese Stella Goldschlag wirklich gegeben, die Jüdin, die Hunderte von Juden an die Gestapo verriet, um ihre Eltern und ihre eigene Haut zu retten. Geliebte, Lügnerin, Opfer und Täterin zugleich, eine von der Zeit monströs verformte Frau. Würger recherchierte gründlich über diese historische Figur, schrieb dann aber keine Biografie, sondern nahm sich die Freiheiten eines Romans.

Schon mit seinem Debüt „Der Club“ hat der 1985 geborene „Spiegel“-Redakteur beindruckendes Talent bewiesen, und hier übertriff er sich selbst. Ein Stil von schöner, unaufdringlich-präziser Schlichtheit und stiller Intensität, dazu eine Handlung, deren Abgründe einen zu verschlingen drohen. Ein Wunder dieses Buchs ist das unfassbare Nebeneinander von aufgeputschter Lebensgier und bürokratisch exerzierter Brutalität. Eben noch schlürfte Stella mit Friedrich im Bett Champagner, wenig später hängt sie mit ausgekugelten Schultern von der Decke eines Folterkellers.

Vom täglichen Horror des Holocaust erzählen kursiv gedruckte Akten eines sowjetischen Militärtribunals, lapidare Protokolle, die zeigen, was Stellas Verrat anrichtete: meist das beiläufige Auslöschen von Familien in Auschwitz. Takis Würger beschönigt nichts, gibt Friedrichs Erzähler-Ich aber eine ganz andere Stimme: Sie lässt die Gefühlswirren des unsterblich Verliebten, des Bangenden und des schließlich von der bitteren Erkenntnis aus der Welt Katapultierten spüren.

Der letzte innere Monolog ist ein Requiem auf Stella, die er sich aus dem Herzen reißen muss, um weiter leben zu können. Und die er bei all ihrer Verdorbenheit doch niemals vergessen wird. Was einem als Leser dieses herausragenden Romans genauso gehen dürfte.

Takis Würger: Stella. Roman, Hanser, 220 S., 22 Euro. Der Autor, der 2017 den Debütpreis der lit.Cologne bekam, liest beim kommenden Festival am 28. März um 21 Uhr im Brunosaal.

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