Nachruf auf Hans Magnus Enzensberger Streitbarer Feingeist

Bonn · Der Lyriker, Schriftsteller und Publizist Hans Magnus Enzensberger ist im Alter von 93 Jahren gestorben. Gespaltenes Verhältnis zu Bonn.

Hans Magnus Enzensberger auf einer Aufnahme der Bonner Fotografin Renate Brandt, aktuelle Preisträgerin der August-Macke-Medaille der Stadt Bonn. 

Hans Magnus Enzensberger auf einer Aufnahme der Bonner Fotografin Renate Brandt, aktuelle Preisträgerin der August-Macke-Medaille der Stadt Bonn. 

Foto: renate brandt

Herrlich, was Hans Magnus Enzensberger einmal über „Die Kunst des Schwurbelns“ schrieb: Im Kunstbetrieb, im Journalismus und in der Kulturpolitik gehöre das Schwafeln zu den gefragtesten Talenten, „wer sich verständlich ausdrückt, scheidet aus“. Eine Rangliste der größten Schwurbler könne er nicht aufstellen, „der Andrang wäre einfach zu groß“. Und dann nennt er die Oberschwafler, die sicher beleidigt wären, wenn sie in der Hitliste keinen Ehrenplatz bekämen: den Kunsttheoretiker  Bazon Brock, den Philosophen Giorgio Agamben, den Kurator Heiner Bastian, FAZ-Autor Patrick Bahners, den Philosophen Slavoj Zizek oder den Journalisten Dietmar Dath.

Diese kleine Definition des Schwurbelns, mit vielen anderen Denkschnipseln im Band „Fallobst“ erschienen, erzählt viel über Enzensberger, der am Donnerstag im Alter von 93 Jahren gestorben ist. Schwurbeln war nie seine Sache, Präzision ja, Sprachwitz auch und der Mut, Dinge auszusprechen. Ob als unermüdlicher Autor, Lyriker, Essayist, Publizist, Dramatiker, Herausgeber der Buchreihe „Die Andere Bibliothek“, vom „Kursbuch“ und der Zeitschrift „TransAtlantik“: Er bezog immer politisch Stellung, eckte an. Eine Haltung, für die der damals erst 33-Jährige als jüngster Preisträger mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde.

Das verlorene Paradies

Das war 1963. In seiner Dankesrede sagte Enzensberger: „Mit meinen Feinden teile ich den Zweifel daran, dass ich Preis, gar diesen Preis, verdiene. Auch jener Zweifel versteht sich von selbst. Auch seinetwegen habe ich nicht von Büchner, nicht von der Poesie und erst recht nicht von mir sprechen wollen. Büchner schrieb aber: ‚Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein Paradies sein.‘ Die Aussicht aufs Paradies ist verschwunden, die aufs Leichenfeld ist nicht weit. Was die Poesie anlangt, so will sie in der Irre nicht verharren. Sie ist, glaube ich, kein Gespenst, und sie stirbt, glaube ich, wenn der Frieden stirbt.“

Düstere Gedanken im Vorfeld der 68er Revolte, die der 1929 in Kaufbeuren geborene und in Nürnberg aufgewachsene Enzensberger als Akteur und Chronist begleitete. Enzensberger war 38, „als das alles anfing“, zu alt, um bei der APO mitzumachen, und zu jung, um deren Zielscheibe zu werden, wie er in seinem autobiografischen Roman „Tumult“ schreibt. Aber: Er, der Freund der Reisen und kleinen Fluchten, war immer dabei und doch nie da.

Die wilden Berliner Jahre

Dass sich die heimatlose Kommune 1 – in der auch Enzensbergers Ex-Frau Dagrun mit seinem Bruder Ulrich eine Zeit lang lebten – immer wieder bei Hans Magnus einquartierte, insbesondere, wenn Uwe Johnsons Wohnung gerade nicht frei war; dass HME, wie er genannt wird, Ulrike Meinhof und den Kreis der RAF-Terroristen gut kannte; dass er seit 1965 das „Kursbuch“, das Zentralorgan der Studentenbewegung, herausgab; das alles änderte nichts an der Tatsache, dass Enzensberger als eigenständige, unkorrumpierbare Persönlichkeit, als Freigeist über den Dingen der Zeit zu schweben schien.

Im gefiel „die Erschütterung der deutschen Ordnung. Das war überfällig und schwer aufzuhalten“, wie er in „Tumult“ schreibt. Aber ihm schienen Salonkommunisten à la Hans Werner Henze in Rom, wo er gerne mit Ingeborg Bachmann tanzen ging, Intellektuellenkreise in Castros Kuba und Literatenzirkel in Russland näher zu sein als die Barrikaden von Berlin.

Immer unterwegs

Enzensberger, der Literaturwissenschaft und Philosophie in Erlangen, Freiburg, Hamburg und Paris studiert hatte und 1955 mit einer Arbeit über Clemens Brentanos Poetik promoviert wurde, war immer unterwegs, lebte in Norwegen, Italien, Kuba und den Vereinigten Staaten. Als „ein von der Menschenjagd aufgehetzter armer Teufel“, wie er in „Tumult“ schreibt, den Studentenführer Dutschke in den Kopf schoss und Demonstranten daraufhin versuchten, das Springer-Hochhaus zu stürmen, aß Enzensberger gerade bei Freunden in einem Prager Vorort Liwanzen, debattierte über den Prager Frühling und die Zukunft der experimentellen Poesie.

Gleich sein erstes Buch hatte Enzensberger bekannt gemacht: „Die Verteidigung der Wölfe“ erschien 1957 – es war ein schmaler Lyrikband, dessen Tonfall aufhorchen ließ. Eine klare, präzise Sprache mit starken Bildern und einem Schuss Ironie prägte nicht nur seine Gedichte und Essays, auch wenn er sich an die Jugend mit „Immer dieses Geld“ oder „Lyrik nervt“ wendete, traf er den richtigen Ton.

Enzensberger und Bonn

Enzensberger und Bonn: Ein gespaltenes Verhältnis. In den späten 1960er Jahren wetterte er als linker Aktivist gegen das Bonner Polit-Establishment, sagte Sätze wie „im Wahlkampf muss man mit dem Wortschatz eines Kindergartens auskommen“. Später wurden Enzensbergers Stücke und Bearbeitungen wiederholt in Bonn gespielt. Und mit der Politik söhnte er sich aus. GA-Gesellschaftsreporterin Marianne Anwerpen notierte jedenfalls 1987, Enzensberger sei beim Bundespräsidenten in der Villa Hammerschmidt zum Mittagessen gewesen. Von der Universitätsgesellschaft Bonn wurde er mit dem Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik ausgezeichnet. Doch die größte Kultur-Wohltat vollbrachte er an dem Bonner Schriftsteller Hans Stilett. Der hatte viele Jahre ohne Unterstützung aus einem Verlag an einer großen Edition des Humanisten Montaigne gearbeitet. Bis ihm eher zufällig ein anderer Montaigneverliebter über den Weg lief: Enzensberger, der ihm mit dem Eichborn-Verlag und seiner „Anderen Bibliothek“ 1998 zum 400. Todestag des französischen Großmeisters den Weg in die Öffentlichkeit bahnte.

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