Rezitator Oliver Steller „Texte sind wie Meeresfrüchte“

Der gebürtige Bonner Oliver Steller ist zweifellos Deutschlands charismatischster Rezitator. Im LVR-Landesmuseum präsentiert er diesen Samstag sein neues Programm: „Spiel der Sinne – Dichterinnen“. Ein Porträt.

 Unzertrennlich: Oliver Steller mit seiner Frieda im Bonner Buchladen 46.

Unzertrennlich: Oliver Steller mit seiner Frieda im Bonner Buchladen 46.

Foto: Benjamin Westhoff

Es gibt schöne Stimmen. Wohlklingende, angenehme Stimmen. Berührende, ergreifende und sinnliche. Welche, die begeistern, und ein paar, die faszinierend sind. Die Stimme von Oliver Steller weist mit Leichtigkeit jedes der genannten Merkmale auf – aber sie geht darüber hinaus. Die Stimme von Oliver Steller lässt die Zeit stillstehen. Seine Stimme bleibt. Sie bleibt im Kopf des Zuhörers, auch wenn die letzte vorgetragene Silbe längst verklungen ist.

Ein Novembermontag in Bonn. In der Waldschule auf dem Venusberg hat Deutschlands bester Rezitator soeben einen Auftritt vor 120 Kindern absolviert – mit Frieda. Jetzt sitzt Oliver Steller mit einer Tasse Fencheltee in einem knallroten Sessel im Buchladen 46 an der Kaiserstraße. Frieda ist bei ihm. Sie funkelt. Wie sie eigentlich immer funkelt. Frieda ist ein wahrer Augenschmaus. Und außerdem eine nordamerikanische Slide-Gitarre aus dem Hause Dobro: 21 Jahre ist sie alt und hat mindestens 2000 Auftritte auf dem Buckel.

Auf dem verchromten Nickel befinden sich kleine Sterne und Wolken, auf der Rückseite hawaiianische Motive. „Diese Gitarre markiert auch meinen Anfang als Rezitator“, sagt Steller und sieht das Instrument nachdenklich an. „Immer, wenn ich Frieda in der Hand halte, strahlt sie genau das aus: Das sind meine Wurzeln.“

Frieda begleitet Steller, seit er als Meisterschüler des großen Rezitators Lutz Görner mit seinem Mentor auf Tournee gegangen ist. „Ich habe auf dieser Gitarre die härtesten Saiten, die man haben kann, bevor der Hals reißt. Das ist wie Stacheldraht.“ Dadurch bekomme Frieda den nötigen „Wumms“, sagt Steller, den er brauche, wenn er vor großen Kinderscharen auftritt. Frieda ist laut und strahlt. Mit ihr bestreitet er sämtliche Kinderprogramme. Die stahlharten Saiten haben jedoch auch zur Folge, „dass ich meine Fingerkuppen eigentlich nicht mehr spüre“.

Frieda gehört zu Oliver Stellers Gitarren-Harem. 14 Gitarren insgesamt, und alle tragen sie weibliche Namen. Weil all diese Instrumente in dem gleichen Gitarrenkoffer-Modell aufbewahrt werden und es keine verheerenden Verwechslungen mehr geben soll, wie bereits vorgekommen, hat Steller jeder einzelnen einen Namen gegeben – und der steht auch auf dem jeweiligen Koffer. Da gibt es die zwölfsaitige „Matrone“, die „Marie-Antoinette“ aus dem Jahr 1856, es gibt die „Gretl“ und die „Ruby“. Steller hat sich mit Spezialistinnen umgeben. Die gegenseitige Beziehung definiert er eindeutig: „Sie haben mich unter ihrer Kontrolle.“

In seinem neuen Programm „Spiel der Sinne – Dichterinnen“, das am 29. Oktober in Düsseldorf Premiere feierte, steht die „Matrone“ mit ihren zwölf Saiten im Mittelpunkt. Der WDR hatte davon einen 100-minütigen Mitschnitt angefertigt, der seitdem drei Mal in voller Länge und ohne Unterbrechungen ausgestrahlt wurde. „Das hatte ich noch nie.“

Steller wurde am 27. August 1967 in Bonn geboren und wuchs in Wachtberg-Ließem auf. Nach dem Abitur an der Bonner Otto-Kühne-Schule absolvierte er die High School in Los Angeles und studierte danach Gitarre, Komposition und Gesang am Berklee College of Music in Boston. Als freischaffender Musiker arbeitete er dort ein Jahr lang und drei weitere Jahre in Chicago. Dann kehrte er nach Deutschland zurück. „Ich habe gemerkt: Ich bin kein Amerikaner, ich bin Europäer“, erklärt Oliver Steller heute seinen damaligen Schritt. „Es war eine Seelenentscheidung.“ Was hat ihm am meisten gefehlt in den Vereinigten Staaten? „Das Interesse am anderen, an der Seele des anderen. Die Art und Weise, wie wir, zum Beispiel hier in Deutschland, miteinander reden. Wir kratzen mehr am Lack.“

Nach seiner Rückkehr probiert der freischaffende Musiker vieles aus. Eine Freundin gibt ihm einen Tipp: Lutz Görner suche einen Gitarristen. Oliver Steller fragt: Wer ist das? Der macht Gedichte, antwortet die Freundin. 1994 gehen Görner und Steller erstmals zusammen auf Tournee, es ist das Tucholsky-Programm des großen deutschen Rezitators. 70 Auftritte. „Anstrengend, aber toll“, erinnert sich Steller. Die nächste Tour 1995 widmet sich Else Lasker-Schüler, und zu einem bestimmten Gedicht würde eine Slide-Gitarre doch prima passen, schlägt Steller seinem Mentor Görner vor. Der zeigt sich ganz begeistert. Erster Auftritt für Frieda. Bis 2002 arbeiten der Meisterschüler und sein Meister zusammen.

Was hat Lutz Görner ihm beigebracht? Oliver Steller nimmt einen tiefen Schluck aus seiner Teetasse. Und überlegt eine kleine Weile. Dann sagt er: „Der Lutz hat mir etwas ganz Entscheidendes beigebracht. Er hat mir gleich am Anfang viel Selbstbewusstsein gegeben. Und hat gesagt: Du bist ’ne romantische Erscheinung. Wenn du auf die Bühne gehst, guckt man dir gerne dabei zu und erfriert nicht.“ Steller blickt kurz aus dem Fenster auf die Bahngleise der Südstadt. „Dann hat er mir ganz viel beigebracht – Haltung, Sprechen, Atmung, Phrasierung, Pausen. Sinn für die Buchstaben.“

Steller spricht weiter mit dieser unverwechselbaren Stimme, die so ungekünstelt, unaufgeregt, unangestrengt und gleichzeitig so unfassbar intensiv ist. Sein Gegenüber begreift plötzlich etwas so Essenzielles wie Geheimnisvolles in Stellers Stimmkunst: Steller spricht so, wie er auf der Bühne spricht, auch gerade an diesem Novembertag beim Tee in Holger Schwabs Buchladen. Steller muss nichts anknipsen. Der Rezitator scheint die Gedanken seines Zuhörers zu ahnen: „Bis die Buchstaben, so wie sie da stehen, in den Alltag übergehen – das dauert Jahre.“

Der 49-Jährige vermutet, dass Görner ein Verehrer von Bertolt Brecht auch als Theatermacher ist. Von jenem Brecht, der seinen Schauspielern weniger Ambition und mehr Natürlichkeit abverlangt hatte. „Damit hat er mich jahrelang gefoltert“, beschreibt Steller die Parallelen zu Görner. „Er hat wirklich versucht, mich, den Oli, herauszuschälen. Er hat immer versucht, an den Kern her-anzukommen. Das kann sehr schmerzhaft sein.“ Görner sei dabei manchmal auch „derb“ und „unverschämt“ geworden, erinnert sich Steller. „Aber es war genau die richtige Art, alles Überflüssige loszuwerden. Ich muss mich auf der Bühne nicht verstellen. Das habe ich dem Lutz zu verdanken.“

In seinem neuen Programm lässt Steller 17 Dichterinnen auftreten. „Gedichte sind Räume, in denen man atmen kann – dieser Satz von Rose Ausländer ist für mich der zentrale Punkt im neuen Programm.“

Vor einem Vierteljahrhundert las Steller „Ein alter Tibetteppich“ von Else Lasker-Schüler. Eine Initialzündung. „Ich wusste sofort, dass dieses Gedicht nicht von einem Mann sein konnte. Selbst Rilke hätte das nicht geschafft.“ Steller fing also an zu sammeln. Vor zwei Jahren begann er, sich täglich mit dem Thema zu beschäftigen. Entstanden ist ein lyrisch-musikalisches Kaleidoskop mit Gedichten von Mascha Kaléko, Hilde Domin, Ingeborg Bachmann, Ulla Hahn, Marie-Luise Kaschnitz, Anna Louisa Karsch, Annette von Droste-Hülshoff und vielen anderen.

Wie in seinen vorigen Programmen – darunter Erich Kästner, Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Friedrich Hölderlin und Christian Morgenstern –, so verknüpft Steller auch bei seinen Dichterinnen Lyrik, Musik und Lebensläufe in virtuoser Manier. Aus dem ehemaligen Meisterschüler ist längst ein eigenständiger, charismatischer Meister geworden. Man kann Stellers jahrelange Beschäftigung mit den Versen nicht nur hören, sondern beinahe mit Händen greifen. „Manche Texte sind wie Meeresfrüchte“, sagt er. „Sie sind tief verborgen und entfalten sich langsam. Sehr, sehr langsam.“

Deswegen entstehe bei ihm auch keine Langeweile, selbst wenn er ein Programm schon 200 Mal gespielt habe. „Es kommt mir immer näher.“ Worum geht’s in der Rezitation? „Um Glaubwürdigkeit. Ist das authentisch? Lebst du diesen Text? Lebst du den Text so sehr, dass die Zuhörer abtauchen können wie in einen guten Kinofilm? Nur eben kürzer, für drei, vier, fünf Minuten. Es sind Kurzfilme, die ich präsentiere.“

Zwei Fragen noch. Wann ist ihm erstmals bewusst geworden, dass er über eine außergewöhnliche Stimme verfügt? Oliver Steller denkt lange nach. Und wirkt ein bisschen verlegen. „Eigentlich ... ist das nicht in meinem Bewusstsein“, sagt er schließlich.

Und was bedeutet ihm die menschliche Stimme? Diesmal muss Oliver Steller nicht lange nachdenken. „Sie ist der Spiegel der Seele. Viele sagen, es sind die Augen. Ich finde, es ist die Stimme.“

Weitere Auftritte Oliver Stellers in der Region: Donnerstag, 1. Dezember, Daun (Forum Daun, 20 Uhr) und Freitag, 2. Dezember, in Frechen (Stadtsaal, 20 Uhr). Infos unter www.oliversteller.de

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