Sonderprogramm bei der Berlinale 30 Filmschaffende werfen ihren Blick zurück
Berlin · „Coming of Age – Young at Heart“ heißt eine Filmreihe, die den Blick zurück cineastisch weitet. 30 Filmschaffende haben die Inhalte ausgesucht. Die sind weit gefasst. So wirkt die Reihe stellenweise beliebig. Aber sie bietet auch Ungewöhnliches.
Die Zeit des Erwachsenwerdens mit ihren unverbrauchten Gefühlen, Idealen und Illusionen, mit ihren Aufregungen und Enttäuschungen, biografischen Wendepunkten und Weichenstellungen ist nicht nur in der Literatur ein großes Thema. Auch der Film interessiert sich seit Langem dafür. Spätestens seit Nicholas Rays „Rebel Without a Cause“ („Denn sie wissen nicht, was sie tun“, 1955), in dem James Dean einem unbequemen Außenseiter Glamour verlieh, hat die Jugend Einzug ins Kino gehalten. „Rebel Without a Cause“, der eine Reihe von Teenagerfilmen auslöste, ist Teil der diesjährigen Berlinale-Retrospektive, die sich dem Jungsein und Erwachsenwerden widmet. „Coming of Age“ ist nicht eigentlich ein Genre, wie der Western, sondern ein Thema im Film. Um „Lebenswelten des Erwachsenwerdens“ gehe es, erklärte die Programmkoordinatorin Annika Haupts.
Das Murmeltier und andere Sonderbarkeiten
Der Retrospektive-Titel „Young at Heart – Coming of Age at the Movies“ ist nicht ohne Grund so lang. Denn er umfasst einige Filme, von denen man kaum behaupten kann, Menschen im Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter zu zeigen. Sondern schlichtweg Erwachsene wie in „Groundhog Day“ („Täglich grüßt das Murmeltier“, 1993) oder einem 18-Jährigen, der von einem 41-Jährigen gespielt wird („Jeder für sich und Gott gegen alle, 1974). Da eignet sich der Zusatz „Young at Heart“ als alles einendes Element. Im Herzen jung sein kann schließlich jeder.
„Nach zwei Jahren Pandemie fühlen wir uns doch alle wie eine Figur in einem Coming-of-Age-Film. Wir sind nicht mehr die, die wir einmal waren, und wir wissen nicht, wer wir künftig sein werden“, fügte Carlo Chatrian, Künstlerischer Leiter der Berlinale, erklärend hinzu. Die Filmauswahl wirkt auf diese Weise stellenweise beliebig.
Perspektive weit über den amerikanischen und europäischen Film hinaus
Vielleicht liegt es daran, dass nicht, wie bisher üblich, die Kinemathek die Auswahl traf, sondern erstmals ein Kuratorium von rund 30 Filmschaffenden aus aller Welt. Darunter die Schauspielerin Juliette Binoche, die gleich einen Film, in dem sie selbst mitwirkte, aufs Programm setzte: „Trois couleurs: Bleu“ („Drei Farben: Blau“, 1993), in dem es um die Trauerarbeit einer erwachsenen Frau geht: Man muss das Thema „Coming of Age“ schon sehr weit fassen, um den Film in diesem Zusammenhang zu zeigen.
Andererseits öffnet das internationale Kuratorium die Perspektive weit über den sonst eher üblichen amerikanischen und europäischen Film hinaus und wartet mit selten gezeigten Filmen auf: Die afroamerikanische Regisseurin Ava DuVernay wählte „Sugar Cane Alley“ (1983) aus, in dem es um die Ungerechtigkeit kolonialer Verhältnisse in den 1930er Jahren geht. Die indische Filmemacherin, Schauspielerin und Autorin Arpana Sen entschied sich für den Klassiker „Aparajito“ (1956) des vielleicht berühmtesten indischen Regisseurs, Satyajit Ray. Auch Bekanntes wie Coppolas „Rumble Fish“ (1983), von Ethan Hawke ausgewählt, und „Virgin Suicides“ (1993), von der ukrainischen Regisseurin Kateryna Gornostai nominiert, steht auf dem Programm.
Scorseses sehr persönliche Auswahl
Martin Scorsese traf eine sehr persönliche Auswahl und zeigte, wie tief Filme in die Biografie ihrer Zuschauer eingreifen können. Er hob Bernardo Bertoluccis „Prima della rivoluzione“ (1964) ins Programm. Der Film hatte ihn als 22-Jährigen wesentlich beeinflusst, obwohl die Geschichte des bildungsbürgerlichen jungen Mannes, die da erzählt wurde, seiner eigenen Lebenswelt damals ganz fremd war. „‚Prima della rivoluzione‘ inspirierte mich ungemein und motivierte mich, etwas Eigenes zu schaffen“, schreibt Scorsese. Die erste Sichtung des Bertolucci-Films „voller Poesie und Schönheit“ habe „sein Leben geprägt“.