Buchtipp An der Schwelle zum Weltenbrand

Bonn · Zweifel und Hintergedanken: Robert Harris' Roman „München“ über das Abkommen vom September 1938 und die spannende Vorgeschichte.

 Spannende Zeitreise: Der Autor Robert Harris bei einem Besuch in Köln. FOTO: HYOU VIELZ

Spannende Zeitreise: Der Autor Robert Harris bei einem Besuch in Köln. FOTO: HYOU VIELZ

Foto: Vielz

Frieden für unsere Zeit“ verkündete Neville Chamberlain Ende September 1938. Den glaubte Englands Premierminister mit dem Münchner Abkommen (siehe Infobox) gesichert. Kein halbes Jahr später war der Hitler-Bändiger als Traumtänzer entlarvt, und Appeasement (Besänftigungspolitik) gilt seither eher als politischer Selbstmord. Wenn der britische Bestsellerautor Robert Harris nun noch einmal die historische Schwelle vor dem Zweiten Weltkrieg besichtigt, muss man mit allem rechnen. Schließlich hatte er in seinem Debüt „Vaterland“ die blutigen Fäden der Geschichte neu geknüpft und 1964 das siegreiche Deutschland im Nuklearpatt mit Amerika gezeigt.

Doch mit „München“ schreibt Harris den Lauf der Dinge nicht um, sondern legt vor allem verbürgte Fakten unter die Romanlupe. Mit jenem Wohlwollen für Englands Verhandlungsführer, das er schon in seiner TV-Doku „God bless you, Mr. Chamberlain“ gezeigt hatte. Doch für einen patriotischen Kniefall ist der Mann aus Nottingham viel zu intelligent.

Als Perspektive wählt er eine reizvolle Halbdistanz: Hugh Legat ist als Chamberlains lange übersehener Sekretär ebenso indirekt ins Geschehen involviert wie der deutsche Aristokrat Paul von Hartmann. Der erschleicht sich im Auswärtigen Amt den Zugang zu Hitler und macht gemeinsame Sache mit den „Septemberverschwörern“ um Hans Oster. Da Legat und Hartmann, beide fiktive Figuren, einst gemeinsam in Oxford studierten, ziehen sie ein Intrigenspiel auf, das die Zeitläufte gravierend ändern könnte. Dass dem britischen Sekretär im Entdeckungsfall nur das Karriereende, dem deutschen Freund aber Gestapo-Folter und Tod drohen, bringt eine raffinierte Risiko-Unwucht ins Spiel.

Vorgeschichte in Zeitlupe

Überhaupt hält Harris gekonnt mehrere Bälle in der Luft: Die wenigen Tage vor dem Abkommen lässt er in Zeitlupe ablaufen, um Zweifel wie Hintergedanken der Protagonisten zu enthüllen. Polit-Schach mit Bauernopfern und verblüffenden Rochaden. Dabei kommt man den Herren so nah, dass Hitlers Schweißgeruch und Chamberlains Eitelkeit (bloß nie die Brille benutzen) auffallen. Und dann gibt es im Dunstkreis der Mächtigen ja noch die zweite Garde. Leute wie Duff Cooper, „der sogar noch am späten Vormittag einen diffus nächtlichen Duft nach Whisky, Zigarren und anderer Männer Frauen verströmte“.

Neben dem Konferenzstress, dem auch Chamberlain standhält, zeichnet der 60-jährige Autor die Atmosphäre unter dem schon brodelnden Vulkan brillant: Sperrballons über London, monströse NS-Symbole in Berlin, dazu bange Erwartung nicht nur bei Engländern, sondern auch bei kriegsmüden Deutschen. Geschmuggelte Kassiber mit Hitlers wahren Plänen bringen von Hartmann in Lebensgefahr, zumal er den Argwohn eines SS-Sturmbannführers erregt. Außerdem schlummert da noch das Geheimnis eines tragischen Freundesverrats, bei dem es unter den Ex-Kommilitonen um die schöne Lena ging. Solche klug aufgefächerten Randgeschichten sorgen dafür, dass Robert Harris' Zeitreise trotz des bekannten historischen Rahmens spannend bleibt.

Der Schriftsteller mag Chamberlain zwar dessen Fehleinschätzung von Hitlers Skrupellosigkeit verzeihen, aber er nimmt das Urteil der Nachwelt gewissermaßen vorweg. Denn den gerade triumphal in England gelandeten Premier sieht er im Blitzlichtgewitter so: „Die schwarz gezackte Gestalt, den Arm ausgestreckt, im Zentrum eines großen elektrischen Lichts wie jemand, der sich in einen elektrischen Zaun gestürzt hat.“

Robert Harris: München. Roman, aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Heyne, 431 S., 22 Euro.

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