Ein Hauch von Ostalgie Bundeskunsthalle in Bonn präsentiert 170 Neueinkäufe

Bonn · Die Bundeskunsthalle präsentiert, was Experten für die Sammlung des Bundes angekauft haben. 170 Ausstellungsstücke ergeben eine spannende Reise durch aktuelles Kunstschaffen. Das ist mal politisch, mal erklärungsbedürftig – und manchmal einfach nur schön.

 Sechs filmisch toll erzählte Geschichten und einen Trailer, ingesamt 110 Minuten Film, bietet diese Installation der Berlinerin Britta Thie mit dem Titel „Translantics“.

Sechs filmisch toll erzählte Geschichten und einen Trailer, ingesamt 110 Minuten Film, bietet diese Installation der Berlinerin Britta Thie mit dem Titel „Translantics“.

Foto: Benjamin Westhoff

Wie tickt ein Mitarbeiter, der unter dem Emblem des Marvel-Comic-Helden Captain America arbeitet? Fühlt er sich auch unverwundbar, und ist er permanent im Dienst des Guten unterwegs? Weiß er überhaupt, was gut ist, wenn er an einem aseptischen, totdesignten Arbeitsplatz seinen Tag verbringt? Fragen wie diese stellt man sich angesichts der Fotoserie „Office“, die die Bonner Künstlerin Louisa Clement 2019 schuf. Dann kamen Corona und der Lockdown, und Captain America musste von zu Hause aus arbeiten.

Fragen des Alltags und der Identität

Wie arbeiten wir, wie leben wir, wer sind wir, wo leben wir, wer darf wie bei uns leben? Mit einer bislang nicht erlebten Intensität haben sich Künstler in den vergangenen Jahren mit Fragen des Alltags, der Migration, der Identität befasst. Zu diesem Schluss kamen zwei Jurys, die für die Kunstsammlung des Bundes auf Messen und in Ateliers auf Einkaufstour gingen. 2017 bis 2021 hatte die erste Jury, der auch der Ex-Bundeskunsthallenchef Rein Wolfs angehörte, jährlich 500 000 Euro zur Verfügung. Eine zweite Jury wurde für die Verteilung von 4,5 Millionen Euro im Rahmen von „Neustart Kultur“ zusammengetrommelt.

An die 2150 Werke umfasst die 1970 ins Leben gerufene Sammlung des Bundes. Eine Sammlung ohne Ausstellungsort, die Kunstwerke können von Museen und Ministerien aus dem Kölner Depot ausgeliehen werden. Und die Neuerwerbungen werden traditionell alle fünf Jahre in der Bundeskunsthalle präsentiert. Die aktuelle Bestandsaufnahme zeigt 170 Arbeiten von 150 Künstlern.

Das Spektrum umfasst nahezu alle gesellschaftspolitischen Themen der vergangenen Jahre, hinzu kommen sehr persönliche Statements und Innenansichten, und sogar ganz zweckfreie Malerei fand Fürsprecher in den Jurys und bei Susanne Kleine, der Kuratorin der Bonner Schau. Die startet mit einem Prolog, in dem die zentralen Themen um ein Drachen-Mobile kreisen, das Raul Walch zusammen mit Flüchtlingen aus Lampedusa gebaut hat. Das erste Kapitel präsentiert dokumentarische Werke über Architektur und Städtebau, insbesondere in der ehemaligen DDR und Westberlin. So zog Akinbode Akinbiyi mit der Kamera durch das Afrikanische Viertel im Wedding, spürt Gabriele Stötzer in ihrem Video „Zelle 5“ ihrer eigenen Biografie nach: Sie war 1976, nachdem sie eine Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann unterschrieben hatte, inhaftiert worden.

Blick auf den alltäglichen Rassismus

Leise rieselt der Schnee in Jan Ködermanns Guckkasten, zu hören ist eine Rede Erich Honeckers aus dem Jahr 1979. Der Blick der Künstler richtet sich aber auch auf den alltäglichen Rassismus. Etwa in Sachsen, wo der syrische Künstler Manaf Halbouni die Stimmung gegen Flüchtlinge aufgreift und in dem Leuchtbild „Go Home“ zeigt.

Auf Recherchetour nach verschwundenen Bildern hat Margret Hoppe im Interhotel Astoria, Leipzig, eine leere Wand vorgefunden, an der noch Spuren der ehemals hier hängenden „Fünf Kontinente“ des DDR-Vorzeigekünstlers Werner Tübke hingen. Eric Meier dokumentiert postsozialistische Veränderungen nach der Wende anhand von fotografierten Garagentoren. Ein Stück Archäologie des Alltags betreibt auch Benedikt Terwiel mit seiner Serie „Imbiss am Kotti“, in der er anhand des Umzugs einer Imbissbude bauliche und soziale Veränderungen am Kottbusser Tor in Berlin dokumentiert. Typisch Berliner Stadtteilkultur verschwindet zugunsten eines hauptstädtischen Mainstreams.

Ironie mit postmoderner Schrankwand

Reichlich Ironie schwingt in Henrike Neumanns Installation mit einer postmodernen Schrankwand mit, in der Birgit Breuels Buch „Treuhand intern“ steht. So lautet auch der Titel der Arbeit. Da schließe sich „der Kreis zwischen einer Volkswirtschaft, die zur Ware wurde, und der Kommodifizierung von Erinnerung im Motiv der Ostalgie“, liest man auf einer Erläuterung. Dankenswerterweise sind etliche Kunstwerke mit ausführlichen Texten versehen.

Neben dem geradezu dominanten Feld der dokumentarischen Ansätze zeigt die Ausstellung auch Positionen, die sich in anderen Sphären bewegen. So die Fotoserie der Bildhauerin Christiane Möbus „Das unnötige Verlöbnis der Frau Holle mit dem Schamanen – oder – a new life“, ein märchenhaft versponnenes Plädoyer für die weibliche Selbstbestimmung von 1972, zu dem die damalige DAAD-Stipendiatin in New York angeregt wurde. Schließlich gibt es – wohltuend nach den vielen Themen und Thesen – noch Malerei, die nur Malerei sein will, etwa von Tamina Amadayar, Stefan Vogel oder Frank Ahlgrimm.

Man verlässt die unbedingt sehenswerte Schau mit einem Fragenpaar von Isaac Chaong Wai vor Augen: „When are we right? When are we wrong“? Richtig oder falsch? Das muss jeder für sich entscheiden.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Zu Hause in der Welt der Töne
Nachwuchspianist Colin Pütz aus Niederkassel Zu Hause in der Welt der Töne