Wissenschaftskrimi aus Portugal Das Bewusstsein des Kosmos

BONN · „Der Schlüssel des Salomon“: Ein neuer Wissenschaftskrimi des Portugiesen J.R. dos Santos. GA-Redakteur Wolfgang Pichler mit einer Buchkritik.

 Unentzifferbare Kunst: Die Skulptur „Kryptos“ von James Sanborn steht im Hauptquartier der CIA in Langley, Virginia. Auch sie spielt eine Rolle im Roman

Unentzifferbare Kunst: Die Skulptur „Kryptos“ von James Sanborn steht im Hauptquartier der CIA in Langley, Virginia. Auch sie spielt eine Rolle im Roman

Foto: Jim Sanborn

Störung im Kernforschungszentrum CERN in Genf: Eine Leiche liegt im Teilchenbeschleuniger. Todesursache: flüssiges Helium, minus 269 Grad kalt. Der Tote ist Frank Bellamy, Direktor der Wissenschafts-Abteilung der CIA. Er hat einen Zettel bei sich: „The key: Tomás Noronha“. In brachialer Logik folgert der Geheimdienst: Ein Hinweis des Opfers auf den Mörder! Die CIA setzt einen Killer auf den portugiesischen Codespezialisten Noronha an, mit dem sie noch eine Rechnung offenhat – denn schon einmal hat der die Amerikaner recht alt aussehen lassen ...

Nach dem verdienten Achtungserfolg seines Buches „Das Einstein-Enigma“ (ursprünglich 2006, auf Deutsch 2017) erscheint bei uns jetzt ein weiteres Buch des portugiesischen Autors J.R. dos Santos, der in seiner Heimat an der Genregrenze zwischen Spannung und Forschung reüssiert. Der Verlag hat dabei die Reihenfolge der Bücher geändert: Statt zeitlicher gilt thematische Zusammengehörigkeit. Das neue Buch folgt nicht direkt aufs „Enigma“: Im Original liegen vier Noronha-Abenteuer dazwischen.

Wie auch beim „Einstein-Enigma“ ist kein Geheimdienst-Thriller im üblichen Sinn herausgekommen. Statt hektischen Über-den-Globus-Gehüpfes gibt es nur zwei Schauplätze: Portugal selbst und Washington D.C. Außer Bellamy gibt es „nur“ fünf Tote. Es gibt nur eine Verfolgungsjagd im Auto und (statt allerlei Schießereien) viele hochwissenschaftliche Gespräche in Laboren und Büros. Die „Rache für Bellamy“ ist für die CIA-Bosse nämlich nur ein Vorwand: In Wahrheit wollen sie an dessen letztes Projekt herankommen, das „Quantenauge“: ein mögliches System für einen Supercomputer, um die ganze Welt in Echtzeit zu überwachen – und sogar nachträglich die Vergangenheit zu beeinflussen (auf quantenphysikalischer Ebene funktioniert das nämlich). Hinweise zur Lösung des Rätsels hat der Wissenschaftler im eigenen Hauptquartier versteckt: Eine Spur findet Noronha in der Skulptur „Kryptos“ auf dem Hof des CIA-Hauptquartiers.

Showdown im Freimaurertempel

Selbst der Showdown erfolgt eher beiläufig – in einem Freimaurertempel samt Opferaltar, wo es Noronhas Freundin Maria Flor zu retten gilt. Viel wichtiger ist: Bellamy hat keinen Supercomputer erfunden, sondern den heiligen Gral der Physik entdeckt – die seit Jahrzehnten gesuchte „Große Theorie von allem“. Quintessenz: Der gigantische Quantencomputer – er ist das Universum selbst. Denn es hat ein Bewusstsein.

Dos Santos' Buch beschreibt wissenschaftliche Phänomene, die alle Grenzen des menschlichen Fassungsvermögens sprengen. Nahtod-Erfahrungen. Die Schrödinger-Gleichung. Das Doppelspalt-Experiment. Die Kopenhagener Deutung. Wie im ersten Buch hat er sich das alles nicht ausgedacht: Er fügt einen 14-seitigen Anhang bei, in dem er alle seine Quellen akribisch aufzählt. Das heißt noch nicht, das hier vorgestellte Weltbild sei „wahr“ – nicht jede Theorie kann als „anerkannt“ gelten, nur weil ein Wissenschaftler sie vertritt (auch dann nicht, wenn er Einstein oder Heisenberg heißt). Macht aber nichts. Westliche Wissenschaft heißt nämlich, auch solche Fragen vorurteilsfrei zu diskutieren, die gegen den angeblichen „gesunden Menschenverstand“ krass verstoßen.

J.R. dos Santos ist dies ein weiteres Mal gelungen. Keine Freude daran wird haben, wer nicht zumindest ein ganz klein bisschen neugierig auf all die überaus komplizierten Gedanken ist, die sich Naturwissenschaftler über die Welt, das Leben und das Universum machen. Sein neues Buch ist eher ein passendes Geburtstags- oder Examensgeschenk für Physikstudenten. Sie bekommen eine Geschichte, die keine Leichenberge und Explosionen braucht, um spannend zu sein. Denn ein Thriller ist auch die Suche nach den Geheimnissen des Universums. Und das Universum als solches ist sowieso einer.

J.R. dos Santos: Der Schlüssel des Salomon. Luzar Publishing, 496 S., 18,50 Euro

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