Ausverkauf bei Gruner+Jahr Der Kulturschock

Bonn · Die junge Bundesrepublik erhielt durch Gruner+Jahr-Blätter wie „Stern“, „Brigitte“ und „Schöner Wohnen“ ihre ästhetische und politische Prägung. Nun droht der Ausverkauf etlicher Marken, weil die RTL-Group als Eigner sparen und umsteuern will. Das provoziert Protest.

 Mitarbeiterprotest in Hamburg gegen mögliche Verkäufe von Titeln des Verlags Gruner + Jahr.

Mitarbeiterprotest in Hamburg gegen mögliche Verkäufe von Titeln des Verlags Gruner + Jahr.

Foto: dpa/Marcus Brandt

„Denn wir sind alle kleine Sünderlein.“ Unwillkürlich summt man den Karnevalshit von Brings, wenn man das Titelblatt des „Stern“ von 1948 vor Augen hat und die Protagonisten, die der jungen Bundesrepublik in den Jahren des Wirtschaftswunders ein unglaubliches Medienwunder bescherten. Der „Stern“ kam am 1. August 1948 mit Hildegard Knef auf dem Cover heraus, die zwei Jahre später im Film „Die Sünderin“ für den ersten Sexskandal der Repu­blik sorgen sollte. Große und kleine Sünderlein waren damals in der sich neu sortierenden Presselandschaft unterwegs: Der ehemalige SS-Mann Henri Nannen hatte den „Stern“ aus der Taufe gehoben, der ab 1965 in dem von Richard Gruner, dem Ex-NSDAP-Mitglied John Jahr und Gerd Bucerius gegründeten Verlag Gruner + Jahr erschien. Bucerius hatte in seiner Firma in den 1940er Jahren KZ-Häftlinge als Zwangsarbeiter eingesetzt. Rudolf Augstein, „Spiegel“-Gründer und ehemals Leutnant der Wehrmacht, gehörte ebenso zu den Publizisten der ersten Stunde wie Axel Cäsar Springer, der in den „Altonaer Nachrichten“ noch auf NS-Linie geschrieben hatte, 1948 zusammen mit John Jahr die Lizenz für die Zeitschrift „Constanze“ bekam und 1952 mit der „Bild“ an den Start ging.

Allesamt waren sie angetreten, um aus Hitlers Volksgenossen eine Gesellschaft mit modernen, demokratisch denkenden Bundesbürgern zu machen. Augsteins „Sturmgeschütz der Demokratie“ kam dabei eine große Rolle zu. Gesellschaftlich prägender war wahrscheinlich der „Stern“ als Flaggschiff der Flotte von Gruner+Jahr. Große Bilderstrecken, breite Themenpalette, moderne Optik, gute Reportagen, die das Weltgeschehen spiegelten, überhaupt ein weltmännischer Duktus drehten das biedere Wirtschaftswunderdeutschland auf links, gaben ihm die dringend nötige Dynamik. Andere Titel von Gruner + Jahr brachten die Bundesbürger ästhetisch, kulinarisch, gesellschaftlich und auch intellektuell auf Trab. Wir stünden nicht, wo wir sind, ohne „Stern“ und „Brigitte“, „Capital“ oder „Art“, „Schöner Wohnen“ und „Essen und Trinken“.

Legenden mit Patina

Vor diesem Hintergrund, angesichts von Legenden, die längst schon Patina angesetzt haben, und Auflagenzahlen im freien Fall vollzieht sich gerade ein dramatischer Wandel. Der vielleicht letzte Akt einer liebgewonnenen Lese-, Lebens- und Wissenskultur ist mit der Ankündigung von RTL verbunden, bei Gruner + Jahr 23 Titel einzustellen oder zu verkaufen, rund 700 Stellen zu streichen. Der Verlag Gruner + Jahr gehört seit 2021 RTL Deutschland, ist Teil der RTL-Group, an der Bertelsmann die Mehrheit hält. Thomas Rabe ist Bertelsmann- und RTL-Chef in einer Person.

Es ist ein gewaltiger Schlag – und für Kenner der Szene erst der Anfang vom Ende einer unvergleichlichen Zeitschriftenlandschaft. Die Rede ist von „Schlussverkauf“ und „Ausverkauf“, geschrieben wird vom „Untergang der Titanic“, der mutwilligen Zerschlagung eines Traditionsverlags. Was bleibt, sind Flaggschiffe wie „Stern“, „Geo“ und „Brigitte“, ferner „Capital“ und „Schöner Wohnen“, „Geolino“ oder „Eltern“ und „Chefkoch“ (beide nur noch digital). Was verschwindet, sind etliche Ableger der Kernmarken, etwa „Geo Epoche“, „Brigitte Woman“, ferner „View“ und Barbara Schönebergers „Barbara“. Titel wie „P.M.“, „Art“, „Beef!“ und „11 Freunde“ sollen verkauft werden. Der Kommunikationswissenschaftler An­dreas Vogel wertet das als „tragischen Einschnitt“, er sieht keine große Zukunft für die Hauptblätter des Verlags. „Die Zeitschriften werden zu einem Themensteinbruch.“ Der Abbau der Untermarken schwäche die Kernmarken. „Gruner + Jahr war ein großer Think-Tank, Redaktionen befruchteten einander“.

Der „Stern“ machte Skandale und Politik

Wir erinnern uns an die freie Korrespondentin für den „Stern“ in Paris, Alice Schwarzer, die 1971 den Aufruf von Simone de Beauvoir, Jeanne Moreau und Catherine Deneuve „Ich habe abgetrieben. Und fordere dieses Recht für jede Frau“ im „Nouvel Observateur“ gelesen hatte. Schwarzer ruft beim „Stern“ an: „Wenn ich Ihnen rund 300 Namen liefere, darunter das obligatorische Dutzend Prominente, zieht der ‚Stern‘ dann mit und sind Sie bereit, das in einer politischen Form zu veröffentlichen?“ Am 6. Juni 1971 bekennen 374 Frauen im „Stern“, darunter Stars wie Senta Berger und Romy Schneider: „Wir haben abgetrieben!“ Ein Skandal. Nicht der einzige unter „Stern“-Chefredakteur Manfred Bissinger, unter dessen Ägide die bunte Illustrierte zu einem linksliberalen Magazin wurde.

Augstein, Bis­singer und Nannen waren die Köpfe einer publizistischen Kulturrevolution: Vom Mief der 1950er Jahre zu den deutschen Kennedys, den Brandts in Berlin und Bonn, vom Pragmatismus der Wirtschaftswunderjahre zu „Mehr Demokratie wagen“. Mit viel blanker Haut auf dem Cover spiegelte der „Stern“ den kulturellen Wandel. Die sexuelle Befreiung ging Hand in Hand mit dem politischen Aufbruch der ‘68er. Der gesellschaftliche Ruck, der durch die Republik ging, wurde von den anderen Blättern von Gruner + Jahr flankiert: „Schöner Wohnen“ holte seit 1960 die durch die NS-Diktatur unterbrochene Moderne nach und wieder in die guten Stuben, zeigte mit Bauhaus-Nachzüglern Alternativen zum gängigen Gelsenkirchener Barock. Die seit 1962 erscheinende Zeitschrift „Capital“ versuchte, aus sicherheitsorientierten Sparbuchfüchsen risikofreudige Kleinaktionäre zu machen. In „Brigitte“ (1954 erstmals erschienen) gab es nicht nur Koch- und Klamottentipps, hier wurde der Typ der neuen deutschen Frau geschmiedet. Es gab ferner psychologische Lebenshilfe, Paar- und Sexualtherapie, Erziehungstipps. „Eltern“ brachte rückständige Konzepte auf neuen Kurs, versaute eine ganze Generation mit Tipps zur antiautoritären Erziehung.

Henri Nannen an seinem Arbeitsplatz als "Stern"-Chefredakteur, 1978.

Henri Nannen an seinem Arbeitsplatz als "Stern"-Chefredakteur, 1978.

Foto: picture-alliance / dpa/dpa

Gesprächsstoff für die Mittelschicht

Mit „Geo“ entdeckte der reiselustige Deutsche seit 1976 neue Ziele, lernte aber auch ungeahnte Pro­blemfelder kennen. Eine Aneignung der Welt mit faszinierenden Bilderstrecken. Das Magazin „Art“ begleitet den Kunstfreund seit 1979 von Documentas zu Biennalen, besucht Künstlerateliers und Messen, liefert der bürgerlichen Mittelschicht Gesprächsstoff für Small Talk und ernste Debatten. Und gehört damit ebenso zum Portfolio des kommunikativen Partygängers wie „Essen und Trinken“ (seit 1972), das die Deutschen mit trockenen Weinen und italienischer Küche missionierte, und das Fußballmagazin „11 Freunde“ (seit 2000). Man will gut informiert mitreden.

Der Clou des Verlags Gruner + Jahr: Dessen Leitmedium „Stern“ verband alles miteinander auf höchst unterhaltsame Weise. Bis die goldenen Jahrzehnte vorbei waren. Wobei der „Stern“ sich in erster Linie publizistisch aus dem Spiel nahm – durch die Veröffentlichung der gefälschten Hitler-Tagebücher (1983). Die Auflage des „Stern“ lag einmal bei 1,9 Millionen. Sie ist seit 1998 um 70 Prozent gefallen.

Kritik überwiegt

Was tun? Derzeit herrscht Bestürzung, Kritik überwiegt. Zuletzt stellte sich die Verlegerin der Funke-Mediengruppe, Julia Becker, in der „FAZ“ gegen die Pläne, etliche Gruner + Jahr-Zeitschriften einzustellen. Becker fordert einen runden Tisch von Verlegerinnen und Verlegern: „An ihm könnten wir gemeinsam mit Journalistinnen und Journalisten, Managern, Verbandsvertretern und Wissenschaftlern Wege suchen, unabhängigen Journalismus zu retten.“

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