Buchbesprechung zu John Irvings Roman „Straße der Wunder“ Der Müll, die Pillen und der Tod

Bonn · Geniales Recycling: Heute erscheint John Irvings 14. Roman „Straße der Wunder“, die Geschichte und unglaubliche Karriere des mexikanischen Müllsammlers Juan Diego.

 Ein Hauch von Alterswerk: John Irving vor John Irving im Jahr 2013.

Ein Hauch von Alterswerk: John Irving vor John Irving im Jahr 2013.

Foto: picture alliance / dpa

Einen Beipackzettel braucht er nicht. Juan Diego Guerrero beherrscht den Umgang mit Betablocker und weiteren Medikamenten, weiß um trancehafte Ruhephasen und Adrenalinschübe, die den Körper fluten, und er ist ein Virtuose nicht nur in der Viagra-Dosierung, sondern im Antizipieren von Situationen, in denen das Potenzmittel angesagt ist. Das braucht der bisweilen hinfällige 54-jährige berühmte Schriftsteller auch, der während einer Fernostreise seine Groupies Mutter Miriam und Tochter Dorothy abwechselnd und durchaus erfolgreich beschläft. Pillen, Viagra, Sexfantasien, sind das Indizien für ein literarisches Alterswerk?

In „Straße der Wunder“, dem 14 Roman von John Irving (74), gibt es weitere, zum Beispiel, dass er keine neuen Wege nimmt, sondern sich ausgiebig aus dem eigenen Werk bedient. Mehr oder weniger kreatives Recycling. Dabei aber von Müdigkeit keine Spur. „Straße der Wunder“ ist ein echter, kraftstrotzender Irving mit einem prallen Plot, bizarren, witzigen und herzzerreißenden Wendungen, ein Buch, das bis zur 781. Seite in Atem hält, obwohl es deutliche Längen hat.

Man will einfach wissen, wo Juan Diegos Geschichte endet, die parallel in die Gegenwart wie in die Vergangenheit führt. Denn der Medikamentencocktail hat die für den Mexikaner nicht unwillkommene Nebenwirkung, dass man immer wieder, gerne auf Flügen, in autobiografischen Träumen versinkt. In einem Fall rufen verschreckte Passagiere sogar den Notarzt. Juan Diego erwacht, stammelt etwas von „Nase der Jungfrau“. Der Leser weiß inzwischen, was das bedeutet, die Passagiere sind irritiert.

Juan Diegos Träume entführen uns in eine der tristesten Ecken Mexikos, in die unweit von Oaxaca gelegene Siedlung Guerrero, in der Familien leben, die in der ewig stinkenden, qualmenden Mülldeponie Verwertbares sammeln. Zwei der Müllkinder sind der aufgeweckte Juan Diego und seine undurchschaubare Schwester Lupe, die jeder wegen ihres Sprachfehlers für behindert hält, die aber mit hellseherischen Kräften und einem ausgeprägten Widerspruchsgeist gesegnet ist. Die Mutter der beiden, die schöne, leichtfertige Esperanza, geht abends auf den Strich und putzt tagsüber im Waisenhaus „Niños Perdidos“, dessen Jesuiten-Patres den schlauen Juan Diego nach Kräften fördern. Der vermutliche Vater des Jungen, Rivera, kümmert sich rührend. Irving beschreibt diesen Mikrokosmos am Ende der Welt liebevoll und detailreich, mit viel Witz und Lokalkolorit.

Natürlich hält die Müll-Idylle nicht. Juan Diego hat einen schrecklichen Autounfall – in Irvings Romanwelt ein probates Mittel, dem Schicksal entscheidende Wendungen zu geben. Esperanza stürzt ab, als sie in der Kirche der Jesuiten eine riesige Marienstatue abstaubt, stirbt dabei, nicht ohne zuvor die Nase der Jungfrau abgebrochen zu haben, die Juan Diego später im Traum erscheinen wird und auch sonst eine gewisse Rolle spielt.

In Irvings Roman flammt hier nicht zum ersten oder letzten Mal eine religionskritische Debatte auf, über die problematische Rolle des Katholizismus in Südamerika, über Zölibat, Kondomverbot, die Unterdrückung indigener Religionen durch die Kirche. Lupe führt die Debatte. Lupe ist die Kurzform von Guadalupe, jener Schwarzen Madonna, die unter den konvertierten Indios Kultstatus genießt, gleichwohl hinter der weißen Maria rangiert.

Obsessiv führt Irving die Dogmen der mächtigen katholischen Kirche gegen das gelebte Christentum der Jesuiten-Enklave von „Niños Perdidos“. Mit deren zähneknirschendem Segen wird der nach Oaxaca gelangte Pater Edward aus Iowa aus der Gemeinschaft entlassen, er darf sich mit dem transsexuellen Flor, der als weibliche Prostituierte arbeitet, zusammentun. Das bizarre Paar wird auch den Waisen Juan Diego zu sich nach Iowa zu nehmen.

Wir befinden uns mitten im Irving-Universum, viele Motive sind bekannt. Das ist kein Zufall: Der Roman „Straße der Wunder“, der phasenweise im Zirkus „La Maravilla“ (das Wunder) spielt, entstand aus Irvings Material zum Drehbuch von „Zirkuskind“ (1994). Wiederholt hat Irving in seiner Romanwelt mal eitel mal selbstironisch die Figur des Schriftstellers, Widersprüche und Mühen des Schreibens zum Thema gemacht. Juan Diego etwa erlernt das Schreiben – wie Irving selbst – im Iowa Writer's Workshop. Ein weiteres Thema: Homosexualität, den Aids-Schock der 1980er Jahre, fürchterliches Siechtum und Tod hat er besser im fantastischen Buch „In einer Person“ (2012) beschrieben. Die schillernde Figur der transsexuellen Flor ähnelt der charismatischen Roberta Muldoon aus „Garp“ (1978).

Dass Irving seinen Erinnerungszirkus und die Selbstzitate in Juan Diegos Betablocker-Viagra-Delirium einbettet und zu einem surrealen Gedankenfluss werden lässt, ist die große literarische Stärke von „Straße der Wunder“. Dass er zu viel in die 781 Seiten hineingepackt hat, zu einer gewissen Redundanz neigt, ist die Schwäche des Romans. Mehr Konzentration à la „Witwe für ein Jahr“ (1999) oder „In einer Person“ hätte gut getan.

John Irving: Straße der Wunder. Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog. Diogenes, 781 S., 26 Euro

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