Die 73. Berliner Filmfestspiele haben begonnen Die Berlinale blickt nach Kiew

Berlin · Mit einer Videoschalte zum ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj beginnen die Berliner Filmfestspiele. Emily Atefs „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ ist der erste Film im Wettbewerb um die Bären. Es ist die Geschichte einer Amour fou, die einiges anders macht.

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, spricht per Video-Leinwand zu den Besuchern der Eröffnung der Berlinale.

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, spricht per Video-Leinwand zu den Besuchern der Eröffnung der Berlinale.

Foto: dpa/Monika Skolimowska

Klar, es ist nur ein bisschen Farbe, wenn der Bär des Berlinale-Pins, den man sich ans Revers stecken kann, in diesem Jahr in Gelb und Blau leuchtet. Aber für die Berlinale ist das Bekenntnis zur Verbundenheit mit der Ukraine mehr als eine leere Geste. Das zeigte sich gleich zu Beginn der Eröffnungszeremonie, als der Schauspieler und Filmemacher Sean Penn auf der Bühne stand, von den Dreharbeiten zu seiner Dokumentation „Superpower“ über den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj berichtete und der prominente Protagonist des Film direkt per Video zugeschaltet wurde.

Dass Selenskyj ein kluger, pointierter Redner ist, weiß man. Aber nun wird man daran erinnert, dass der Präsident des angegriffenen Landes, der unfreiwillig zum militärischen Befehlshaber wurde, als ehemaliger Schauspieler um die Bedeutung von Kultur und Film aus eigener Erfahrung weiß. Er schlägt den Bogen von Wim Wenders „Der Himmel über Berlin“, der den Fall der Berliner Mauer künstlerisch vorweggenommen habe, zu den Mauern, die Russland mit diesem Krieg neu errichten wolle. Die Kernfrage seiner Rede lautet, ob sich Kultur und Kino aus der Politik heraushalten können. Es ist natürlich eine rhetorische Frage. Kultur könne sich aus der Politik heraushalten, aber nicht wenn es eine Politik der Aggression, der Massenverbrechen, der Morde, des Terrors, der Zerstörung und des totalen Krieges sei.

Selenskyjs Rede wurde genauso wie das ergreifende Statement der iranischen Schauspielerin und Jury-Mitglied Golshifteh Farahani, die die Wichtigkeit von Europas Unterstützung für die Frauenrevolution im Iran unterstrich, mit Standing Ovations aufgenommen. Aber trotz der bedrückenden weltpolitischen Ereignisse will man in Berlin auch den Neustart des Festivals nach der Pandemie feiern. Dazu gehört auch ein Eröffnungsfilm, der ein bisschen gute Laune verbreiten und mit den hinzu gereisten Stars ein wenig Glamour auf den roten Teppich zaubern soll.

Volle Punktzahl für „She Came to Me“

In beiden Disziplinen erreicht Rebecca Millers „She Came to Me” als diesjähriges Hors d’œuvre die volle Punktzahl. Mit Anne Hathaway und Marisa Tomei waren zwei Königinnen des US-Independent-Kinos angereist und zudem der großartige Peter Dinklage, der nicht erst seit „Game of Thrones“ internationale Starpower generiert hat. Letzterer spielt einen Opernkomponisten mit Schreibblockade, der nach einem Tête-à-Tête mit einer Schiffskapitänin (Tomei) zu neuen kreativen Ufern aufbricht.

Miller, die bereits 2015 mit „Maggies Plan“ bei der Berlinale zu Gast war, baut ihre romantische Komödie zu einem vergnüglichen Por­trät dysfunktionaler Familien- und Beziehungsstrukturen aus, das vor allem von der liebevollen Figurenzeichnung und der hochwertigen Ensemblearbeit lebt. Dass der Film, der außerhalb des Wettbewerbs in der „Special“-Reihe programmiert ist, nach der politisch ergreifenden Eröffnungszeremonie ein wenig zu leicht wirkte, ist nicht seine Schuld. „She Cames to Me“ zeigt im Gegenteil die Stärke des US-Indie-Kinos, das es immer wieder schafft, das Unterhaltsame im zutiefst Menschlichen zu erkunden.

Sexuelle Begegnung von roher Leidenschaft

Der erste Wettbewerbstag begann neben der eher belanglosen kanadischen Satire „BlackBerry“ von Matt Johnson über den Aufstieg und Fall des gleichnamigen Tasten-Smartphones mit dem deutschen Beitrag „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ von Emily Atef. Versonnen schaut Maria (Marlene Burow) aus dem Fenster, durch das das weiche Sommermorgenlicht hineinscheint. Johannes (Cedric Eich) ist stolz auf das schöne Foto, das er von seiner Freundin gemacht hat. Er ahnt nicht, dass Marias Blick sehnsüchtig auf das Haus am Feldrand gegenüber gerichtet ist. Seit der Nachbarbauer Henner (Felix Kramer) sie im Hofladen kurz berührt hat, fühlt sich die 19-Jährige zu dem doppelt so alten Mann hingezogen. Die erste sexuelle Begegnung ist von einer rohen Leidenschaft geprägt, in die erst allmählich die Zärtlichkeit einfließt.

Von einer klassischen Amour fou – einer unaufhaltsamen Liebe, die zwangsläufig in der Tragödie endet – erzählt Emily Atef in „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ nach dem gleichnamigen Roman von Daniela Krien. Wie in all ihren Filmen überzeugt Atef, die schon vor fünf Jahren ihren Romy-Schneider-Film „3 Tage in Quiberon“ in Berlin präsentiert hat, auch hier durch ihre dezidiert weibliche Sicht, die nie ins Programmatische kippt, sondern sich stets aus einer kompromisslosen Nähe zu den widersprüchlichen und komplexen Frauenfiguren ergibt. Dabei entwickelt Atef in den zahlreichen Liebesszenen, in denen das Begehren der jungen Frau erforscht wird, einen äußerst sinnlichen Blick, der bewusst macht, wie stereotyp Sex im Kino normalerweise verhandelt wird.

Dass das Ganze in der thüringischen Provinz im Wendejahr 1990 zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung stattfindet, gibt der intimen Geschichte historische Tiefe. Dabei geht es weniger um demonstratives Zeitkolorit als um eine Umbruchstimmung, die auf dem Land in abgedämpfter Form ankommt und dennoch emotional katalysierend wirkt. Mit „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ beweist sich Atef erneut als ungeheuer aufmerksame und neugierige Regisseurin, die die Facetten weiblichen Erlebens mit großem cineastischen Gespür erkundet.

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