Neuer Roman von Ulla Hahn Die Nachkriegszeit am Rhein

Bonn · „Wir werden erwartet“: Das Finale in Ulla Hahns autobiografischer Romanserie überzeugt. Die Autorin kommt dem Leser dabei ganz nahe.

 Im Bann des Wassers: Ulla Hahn erzählt von Hilla Palm, die es immer wieder zum Rhein (oder zur Elbe) zieht.

Im Bann des Wassers: Ulla Hahn erzählt von Hilla Palm, die es immer wieder zum Rhein (oder zur Elbe) zieht.

Foto: Verlag

Hilla Palm aus Dondorf am Rhein. Längst ist „dat Kind von ‘nem Proleten“ uns ans Herz gewachsen, dieses literarische Ich der Dichterin Ulla Hahn, das in dieser ganz eigenen Sprache durch die Nachkriegszeit führt.

Das Kind eines ungelernten Arbeiters und der Hausfrau Maria in der Provinz hat den fremden Zauber der Poesie entdeckt („Das verborgene Wort“), ist ausgebrochen aus dem Dorf am Rhein zum Studium in das studentische Köln („Aufbruch“) und hat im Libertinismus der 68er Liebe, Glaube und Bürgerlichkeit entdeckt („Spiel der Zeit“). Jetzt wird es schwer politisch im vierten Band von Ulla Hahns unerhörter Tetralogie einer Jugend im Rheinland.

Im frühen Tod des geliebten Hugo ereilt Hilla ein Schicksalsschlag, den sie nicht verarbeiten kann. Es war eine allumfassende Liebe, die den Mann mit dem kleinen Buckel aus der Marienburger Bourgeoisie mit dem Mädchen vom Land verband, eine Verbindung von trotzigem Zauber inmitten WG und freier Liebe, antiautoritärer Erziehung und Make-love-not-war, Katholizismus- und Kapitalismuskritik.

Ein Aufruhr der Gefühle

Dieses Paar schien füreinander geschaffen, nun kommt Hugo bei einem Autounfall mit Fahrerflucht ums Leben, und Hilla findet sich in einem Aufruhr der Gefühle wieder. Da ist Wut, da ist Leere, mit Pillen überdeckt, das Gefühl, neben sich zu stehen, „dass mich das Leben, das alles überhaupt nichts angeht“. Alles egal, und dann kommt der Hass auf „Dendaoben“, wie sie und Hugo Gott immer vertrauensvoll-fröhlich genannt haben, und der jetzt zum Prügelknaben für die wunde Seele wird.

Hilla schmettert der Jungfrau in St. Maria im Kapitol einen faulen Apfel vor die Füße. Wie Ulla Hahn diesen Verlust mit all seinen Verheerungen beschreibt, ist fast wie ein innerer Monolog, nach außen gestülpt. Manchmal hat man das Gefühl, regelrecht indiskret zu sein, so nah kommt man Hilla.

Ihre innere Heimatlosigkeit ist der Nährboden für Marga, die Hilla in den Dunstkreis der Kommunisten zieht. Klar, in den obligatorischen WGs wimmelt es von Spontis und Flowerpower. Aber Hilla hat genug von dem ganzen „Kokolores“ und macht ernst nach dem Studium des Kommunistischen Manifests: „Ich zog mir die Decke über die Ohren. Genossin. Das Wort begann zu keimen, feine Wurzeln zu treiben in Kopf und Herz.“

Hillas Kampf für die Befreiung der Arbeiterklasse – verbunden mit einem Umzug nach Hamburg – beschreibt Ulla Hahn mit meisterhafter Trennschärfe. Wie die KPD-Romantik der alten antifaschistischen Kämpfer auf radikal befeuertes politisches Jungvolk trifft, das ist nicht nur historisch interessant, sondern auch richtig komisch – nicht zuletzt in der Konfrontation mit der bodenständigen Familie daheim in Dondorf, die „dat Kenk“ misstrauisch beäugt, aber auch irgendwie beeindruckt ist.

Irrungen und Wirrungen einer Idealistin

Freiheit, Gerechtigkeit und Buttercreme für alle! Mit ironischer Distanz betrachtet die Autorin die Irrungen und Wirrungen der jungen Idealistin, ohne sie der Lächerlichkeit preiszugeben. Wie in den vorangegangenen Bänden findet Ulla Hahn auch hier einen in der literarischen Gegenwart einzigartigen Ton, einen aus Poesie, Intellektualität und Heimatverbundenheit gespeisten Sprachfluss. Das kühne Spiel mit den Wörtern steht gleichberechtigt neben der Politphrase und dem wunderbaren rheinischen Singsang, der die hochtrabende Hilla immer wieder erdet.

Eine neue Arbeiterliteratur zu erschaffen, das war die Idee von Hilla-Ulla: die Themen der kleinen Leute, eingebettet in einen großen gesellschaftlichen und humanistischen Kontext, geschrieben in einer Sprache, die das Schönste aus beiden Welten vereint.

Bei so viel Gefühl für das Falsche und Richtige in der Sprache ist es kein Wunder, dass irgendwann auch Hillas Kopf und Herz gegen die Instrumentalisierung der Wörter rebellieren. Spätestens bei ihrem ersten Besuch in der DDR wird die Diskrepanz zwischen der schönen Theorie und dem real existierendem Sozialismus offenkundig. Die Verlogenheit der Akteure bringt den Gerechtigkeitssinn der Moralistin, irgendwie im Herzen ja doch noch ein bisschen katholisch, dermaßen in Wallung, dass sie abschwört.

Hugo, der tote Geliebte, hat es in ihren Gedankenspielen schon immer gewusst. Hilla kann jetzt endlich trauern, ohne zu kämpfen.

„Lommer jonn“ pflegte der Großvater zu sagen, wenn es an den Rhein ging, an den Fluss, der immer schon Hillas emotionaler Dreh- und Angelpunkt war. Und der sie am Ende auch wieder einfängt. „Wir werden erwartet“ heißt dieses Buch nicht zufällig.

Ulla Hahn: Wir werden erwartet. Deutsche Verlags-Anstalt, 630 S., 28 Euro

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