Corona und andere Katastrophen Ferdinand von Schirach veröffentlicht neues Buch

Bonn · Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge im geistreichen Gespräch über Pandemie, Politik und Grundrechte, niedergeschrieben im Buch „Trotzdem“. Ein engagierter Schlagabtausch zwischen zwei Juristen.

 „Es scheint die Stunde der Feldherren zu sein“: Der Jurist und Autor Ferdinand von Schirach.

„Es scheint die Stunde der Feldherren zu sein“: Der Jurist und Autor Ferdinand von Schirach.

Foto: picture alliance/dpa/Tobias Hase

Wenn zwei kluge Herren über Corona reden, kann das leicht ausufern, wie ein unterhaltsamer, mitunter bizarrer Dialog zwischen dem Juristen, Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge (88) und dem Juristen und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach (56) zeigt. Ein engagierter Schlagabtausch zwischen den in München respektive Berlin sitzenden und am 30. März per Instant-Messenger verbundenen Herren aus der Frühzeit der Corona-Pandemie.

Auf  einem „wet market“ in Wuhan, auf  dem das Virus auf den Menschen übergesprungen sein soll, startet das Gespräch, das jetzt unter dem Titel „Trotzdem“ in Buchform erschienen ist. Ein fesselnder, jedoch nicht durchweg gelungener intellektueller Versuch, diese völlig neuartige Situation zu fassen.

Trump und die Pandemie

Zunächst charakterisiert man das Virus als „klassenlos“, es unterscheide nicht zwischen Hautfarben, Geschlechter, zwischen Alter oder Herkunft. Das Virus zwinge die Börse, ganze Staaten in die Knie. Und dann unternimmt Schirach den ersten Ausfallschritt, erzählt von einem Deutschen, der 1918 in New York an der Spanischen Grippe stirbt, von dessen Witwe, die das Erbe in Grundstücke in Queens investiert, von dem Enkel, der 45. Präsident der Vereinigten Staaten wird: Donald Trump. Zurück zum Thema: Vom „Shutdown unserer Grundrechte“ ist da die Rede, von den Unworten Herdenimmunität und Durchseuchung, von einer Politik, die nach dem unüblichen Prinzip Versuch und Irrtum verfährt („Ob etwas hilft, kann nur ausprobiert werden. Unsere Grundrechte werden beschränkt, ohne dass jemand sicher sagen kann, ob das sinnvoll ist.“). Schirach bringt das Grundgesetz ins Spiel, das das Leben „nicht um jeden Preis“ schütze, worauf der nicht minder  historisch beschlagene Kluge über die Triage und den Entscheidungsdruck in Kriegen oder Katastrophenfällen ins Spiel bringt, bei dem der Arzt urteilen muss, welchen Patienten er rettet, welchen er verloren geben muss.

Die beiden Herren streifen ethisch-moralische Extremsituationen, wie sie Schirachs Stück „Terror“ exemplarisch vorexerziert, wo abgewogen wird, in welchem Fall Leben geopfert werden, um andere zuretten. Auch die Pandemie könne zu derlei belastenden Entscheidungen führen, meint der Jurist: „Es scheint die Stunde der Feldherren zu sein“, sagt Schirach mit Blick auf die Kanzlerin, deren engagierten Podcast er bewundert. Sie wisse als ehemalige Bürgerin der DDR, was diese staatlichen Beschränkungen bedeuten: „Man spürt ihr Ringen um das richtige Maß.“

Frage nach den Grundrechten

Kluge will zum Essenziellen kommen, zu den Grundrechten. Und dann schwirren die beiden Herren ab ins 11. Jahrhundert zu Papst Gregor VII., Heinrich IV. und die Demütigung des Königs durch den Gang nach Canossa. Dann geht es in einem eloquenten, geistreichen Ritt durch die Historie über den Juristen Montesquieu und dessen Schlüsselwerk der Aufklärung, „Die Perserbriefe“, zu dem Staatstheoretiker John Locke  („Vom Geist der Gesetze“ mit seinem Plädoyer für Gewaltenteilung). Kluge weiß: „Die Kirche verbietet das Buch sofort.“ Kann aber nicht aufhalten, dass 40 Jahre später in Amerika die „Declaration of Rights“ unterzeichnet wird. Darauf folgt in Frankreich die Erklärung der Menschenrechte.

Ziellos durch Berlin fahren

Atemholen. Schirach klagt, dass er nicht ins Café kann, erzählt, dass er nächtens ziellos durch Berlin fahre wie Tom Cruise in „Vanilla Sky“, wie menschenfeindlich er die erzwungene Distanz findet. Kluge lässt nicht in seine Seele blicken.

Die Herren machen Pause, kommen am Nachmittag wieder virtuell zusammen. Offenbar haben sie sich gut vorbereitet. Denn es geht gleich detailreich über die Beulenpest in Florenz (1348) und das verheerende Erdbeben 1755 in Lissabon als Katalysator der Aufklärung, es geht um  Voltaire und Rousseau. „Aus der Katastrophe erwächst etwas Neues“, wirft Kluge ein und fragt in Anspielung an Dante: „Welche Sterne werden wir nach der Pandemie sehen?“ Schirach: „Ich glaube, das Virus hat uns an eine Zeitwende gebracht. Beides ist jetzt möglich, das Strahlende und das Schreckliche.“  Kluge: „Zuerst das Schreckliche.“

Wieder begeben sich die beiden auf eine schillernde Zeitreise von Thomas Hobbes über David Hume zu Galileo, Carl Schmitt und Ernst Jünger, weiter zu Thomas Mann, schließlich zu den Morden nach dem Röhm-Putsch. Es fehlt in dieser Phase des Gesprächs, in der sich die beiden Herren die schlauen Bälle nur so zuwerfen, an einem Moderator, der den schwindelerregenden Dialog in verständliche Bahnen lenkt. Sind wir im Krieg, wie Frankreichs Präsident Macron meint? Fragt  Schirach und antwortet: „Das sind wir nicht. Und wir müssen mit solchen martialischen Formulierungen  aufpassen. Die Decke der Zivilisation ist dünn.“ Es gebe zwar, so Schirach, „eine Art ungeschriebenen Notstand“, doch noch scheine unsere Demokratie nicht gefährdet. Aber es dürfe nicht zu lange dauern.

Die Zeit nach Corona

Und die Zeit nach Corona? Schirach  meint, dass die Globalisierung etwas zurückgedreht werde, dass unter dem Eindruck, „dass die Politik alles ermöglichen kann“, es nicht mehr nachvollziehbar sei, wenn Politiker etwa sagen, Klimaschutzmaßnahmen seien nicht zu verwirklichen. Schirachs Vision kommt unvermittelt: „Wir können heute neu über unsere Gesellschaft entscheiden – nicht wie sie ist, sondern so, wie wir sie uns wünschen.“  Eine europäische Verfassung.

Ja, es blühen auch Utopien mitten in der Corona-Krise – und mitten in der Entschleunigung kommt es zu geistreichen Gesprächen wie diesem. Und zu allerlei Gedankenspielen. Als die Pest 1348 in Florenz wütete, schrieb der Dichter Giovanni Boccaccio alle gruseligen Details jener Pandemie auf. Quasi als Einleitung zu seiner sinnlichen Fantasie „Decamerone“, in der sieben junge, schöne Frauen und drei junge Männer zu einem Landhaus in Fiesole aufbrechen, um 14 Tage und Nächte dort zu verbringen und sich hundert Geschichten über die Liebe zu erzählen.

Ferdinand von Schirach, Alexander Kluge: Trotzdem. Luchterhand, 78 S., acht Euro.

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