Premiere im Depot 1 in Köln Gefangen im Netz der Egomanie

Köln · Premiere im Depot: Stefan Bachmann inszeniert Rainald Goetz’ Roman „Johann Holtrop“. Das ist in vielerlei Hinsicht beeindruckend – hätte es nicht zuvor noch Beeindruckenderes gegeben.

Hunderte senkrecht gespannte Schnüre auf der Bühne zwingen das Ensemble zu besonderer Beweglichkeit.

Hunderte senkrecht gespannte Schnüre auf der Bühne zwingen das Ensemble zu besonderer Beweglichkeit.

Foto: Tommy Hetzel

„Die Verblödung der plötzlich reich gewordenen Menschen ist ein interessantes Kapitel“, heißt es im Roman „Johann Holtrop“. „In dieser Gefahr der von privater Geldgier angetriebenen Verblödung sehe ich auch Dich“, warnt ein väterlicher Freund die Hauptfigur. Doch dieser vom „Aufbau Ost“ beflügelte Wirtschafts-Shootingstar ist so sehr gefangen im Netz seiner Egomanie, dass er nicht nur einmal, sondern sogar zweimal tief fällt. Stefan Bachmann hat diese Geschichte von Rainald Goetz („Irre“) in einer von ihm und Lea Goebel sehr gestrafften Fassung jetzt auf die Bühne des Depot 1 gebracht.

Radikal und rücksichtslos, aber ohne tieferes Verstehen betriebswirtschaftlicher Zusammenhänge hat sich der 48-jährige Holtrop nicht nur an die Spitze des Unternehmens des Patriarchen Assperg gemobbt, sondern die Firma ohne Rücksicht auf Verluste vergrößert. Die Blase platzt selbstredend. Der gefeuerte Holtrop erleidet einen Nervenzusammenbruch, rappelt sich auf und reitet ein Jahrzehnt später das nächste Unternehmen in den Ruin. Nur helfen ihm diesmal keine Ärzte aus dem mentalen Dilemma.

Middelhoff, Schickedanz und Co.

In seinem 2012 erschienenen Roman verarbeitete Goetz die Finanzgeschehnisse der 1990er und Nullerjahre und Personen wie Thomas Middelhoff, Madeleine Schickedanz, Liz und Reinhard Mohn oder auch den in Köln umtriebigen Josef Esch. In der vergangenen Spielzeit inszenierte Bachmann bereits Goetz’ Stück „Reich des Todes“, das die Folter von Gefangenen durch amerikanische Soldaten im Gefängnis Abu Ghraib thematisiert. Ein packender Abend, der damals unter die Haut ging.

Mit „Johann Holtrop“ greift Bachmann im wahrsten Sinne des Wortes die Fäden von „Reich des Todes“ auf. Erneut sind auf der Bühne (von Olaf Altmann) Hunderte von Schnüren senkrecht gespannt, durch die sich auch diesmal ein rein weiblicher Cast mal schlängelt, mal kämpft. Und wieder sprechen sie die Texte rhythmisch, allerdings nicht wie zuvor von einem elektronischen Metronom getrieben, sondern gebettet in einen variantenreichen Soundtrack, den der Komponist Sven Kaiser mit einem kleinen Ensemble live beisteuert.

Als sinnliches Erlebnis betörend

So betört der Abend, der sprachlich zwischen durchgetaktet und schnoddrig mäandert, als sinnliches Erlebnis. Die Musik wird mal getrieben von einem fordernden Klavierstakkato, mal lullt sie wienerisch fast ein. Schließlich veredelt sie das chorische Sprechen der acht Schauspielerinnen zum Choral.

Das achtköpfige Ensemble verkörpert mehr als 20 Figuren und bewältigt mit faszinierender Leichtigkeit ein Textgebirge nach dem anderen. Während Melanie Kretschmann allein Johann Holtrop spielt, schlüpfen alle anderen in verschiedene Rollen – und liefern reihenweise Kabinettstückchen ab: Nicola Gründels wienernder Berater, die überkandidelten Milliardärsgattinnen von Anja Laïs und Rebecca Lindauer oder Lea Ruckpauls jungspundender PR-Schnösel. Cennet Rüya Voß sorgt als Kölsch-brabbelnder Berater für komische Momente, Ines Marie Westernströer als Holtrops in die Jahre gekommenes erstes Opfer berührt ungemein. Luana Velis kalte Bedrohlichkeit setzt Holtrop nicht nur in der Firma die Hörner auf.

Melanie Kretschmann hat den roten Faden fest im Griff

Inmitten dieses Panoptikums agiert Melanie Kretschmann mit großer Souveränität. Während die anderen über die schauspielerischen Stränge schlagen dürfen, fällt ihr die Aufgabe zu, nicht nur die Fäden zu ziehen, sondern den roten Faden fest im Griff zu behalten. Ihr Anzug mag stahlblau sein (Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes), ihre Worte markig. Doch ihr Holtrop ist nicht stählern, eher getanzt, eine Geschlechtszuordnung scheinbar unnötig. Was sich etwa in der Beinhaltung niederschlägt: Da wird nicht breit gespreizt, höchstens der Knöchel aufs Knie gelegt. Meistens sind die Beine jedoch übereinandergeschlagen oder die Knie aneinandergepresst. Die Karikatur eines Machos geht anders, ist aber eben nicht vonnöten.

Zu Recht bejubelt das Premierenpublikum im Depot 1 einen gelungenen Abend – der als noch gelungener empfunden werden könnte, hätte man das „Reich des Todes“ nicht als direkten Vergleich. Die Geschichte eines manischen Managers ist ein Nichts gegen die Kriegsverbrechen, die an hilflosen Gefangenen begangen worden sind.

135 Minuten (ohne Pause), wieder am 1.3., 20., 21. und 23.4.

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